Bewaffnet mit ein wenig
Werkzeug, einem Fläschchen Öl und einem Lappen klopfe ich am Vormittag an Kollege B.s Bürotüre an. Als ich den Raum betrete, hält B. gerade eben Martins Renner in der Hand und mustert diesen kritisch von oben. Die beiden sind sich noch fremd.
"Und? Was meinste?" frage ich. Kollege B. wiegt langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. Ganz so überzeugt ist er noch nicht von Martins altem Peugeot. Wir schauen es uns gemeinsam an.
Die Kette ist in gutem Zustand. Ich erinnere mich, dass Martin erzählt hat, dass er sie vor kurzem ausgetauscht hat. Die Bremsklötze sind ebenfalls nagelneu; Martin hat sie extra für B.s heutige Fahrt gewechselt. Die
Bremsen greifen. Die
Reifen sind ebenfalls in Ordnung. Sieht alles so weit gut aus. Wäre da nur nicht dieser Gepackträger. Aber der darf ja - Martin hatte es mehrfach betont - nicht abgeschraubt werden. Ich werde mich also hüten.
Kollege B. schwingt das Bein über das Rad und setzt sich auf den
Sattel. Die Rahmengröße ist angemessen und die Sitzposition ist ebenfalls geeignet. Puh! Glück gehabt. Denn Martin hat zum Feststellen der Sattelstütze irgendetwas ganz Exquisites aus der Altschraubenkiste verwendet und mich darum gebeten, nach Möglichkeit nicht daran herumzuschrauben. Er sei froh, dass es irgendwie hält.
Ich entferne an den Rädchen des Schaltwerks den Schmodder und ziehe die Kette durch den Lappen. Das war's. Mehr ist wirklich nicht zu tun. So alt der Renner auch sein mag, Martin hält ihn in Schuss.
Auf dem Tisch liegt auch der
Helm, den Martin mitgebracht hat. Naja. Martin muss irgendwo im heimischen Keller ein Radsportmuseum betreiben. Kollege B. sieht mit dem Rad und der alten Knolle auf dem Kopf aus wie aus einer anderen Zeit. Kollege B. grinst. Ich glaube, das Understatement kommt ihm ganz gelegen.
"Jetzt muss nur noch der Regen aufhören", sagt B.. "Martin sagt, dass das Rad bei Regen nicht gefahren werden darf." Diese Auflage ist mir neu. "Wird schon", sage ich mit Zuversicht und ziehe wieder mit meinem
Werkzeug, dem Fläschchen Öl und dem Lappen von dannen. Zu meiner eigenen Beruhigung vergewissere ich mich aber sofort beim Regenradar der Niederländer, dass das Regenfeld wirklich um 14 Uhr durchgezogen sein wird. Dann bleiben großzügige drei Stunden, dass die Straßen abtrocknen. Ich bin beruhigt.
Das Peugeot, gibt Martin beim Mittagessen preis, ist mittlerweile 32 Jahre alt. Er hat es sich in Jugendjahren gekauft. Es ist also nicht verwunderlich, dass es ihm ans Herz gewachsen ist. Als ich am Nachmittag mein MTB über den Flur schiebe, um B. abzuholen, sagt Martin zu mir mit einem Augenzwinkern: "Egal was mit B. passiert. Pass mir auf mein Rad auf!"
Wir sind viel zu früh am Treffpunkt. Alleine. Und lange Zeit will kein anderer auftauchen. Wir sitzen auf einer Bank und warten. Wo bleiben die nur? Ich schau auf die Uhr. Dreh mich um. Keiner da. Keiner kommt. Wir haben doch Mittwoch? Ja. Die erste Fahrt ist doch diese Woche? Ja. Ich versuche Gelassenheit auszustrahlen und hole mir dazu beim Eismännchen eine Kugel Cappuchino im Hörnchen.
Gelassenheit? Wie soll man gelassen sein, wenn man schon seit Wochen ungeduldig auf die erste Gruppenfahrt wartet. Lange Wochen. Ungefähr so lange wie früher als Kind, wenn ich auf Weihnachten gewartet habe. Genauso ziehen sich jetzt auch die Minuten. Zähe Minuten, wie vor der Bescherung. Aber dann kommt endlich die Gewissheit und Erleichterung, als sie endlich alle eine Minute vor Fünf auftauchen. All die Fahrer mit gebogenen Rennlenkern, die wir gesehen hatten und dann im Nichts verschwunden sind, hatten sich für uns nicht sichtbar hinter dem großen Eiswagen des Eismännchens versteckt.
Lars zählt durch. Dreiundzwanzig. Dann beginnt er, wie es sich bei einer Anfängergruppe gehört, die Grundregeln des Gruppenfahrens zu erklären. Ich schaue durch die Gesichter. Wieder jede Menge neue, aber auch einige bekannte Nasen sind dabei. Wie schön! Da hinten sind Daniel und Tobi. Ich lasse Lars weiter erzählen und rolle mit dem Rad zu den beiden. Zeit zum Erzählen.
Dann setzt sich der Tross endlich in Bewegung. Ich bleibe mit meinem breiten Lenker lieber ganz weit hinten neben Lars. Schräg vor mir kracht die Kette von Kollege B., der gerade die rechte Hand vom Lenker genommen hat und an der ungewohnten Rahmenschaltung hantiert. Und schon wird unvermittelt vorne im Feld scharf gebremst. Der junge Fahrer mit dem roten Trikot direkt vor mir und Kollege B. schaffen es gerade eben noch zu
bremsen, ohne in das Hinterrad der Vorausfahrenden zu fahren. Das war knapp!
Kollege B. wird es nicht leicht haben. Auf einem ihm fremden Rad mitten im unruhigen Feld von Neulingen, denen das Gruppenfahren noch genauso ungewohnt ist wie ihm selbst. Und hatte Martin nicht auch noch gesagt, dass er beim ersten und zweiten Gang aufpassen solle, dass ihm die Kette nicht abspringt?
Ich plaudern mit Lars. "Haste wohl nicht zugehört", sagt Lars lachend, als ich ihn nach der geplanten Strecke frage. Dann skizziert er grob, was er sich vorstellt. "Monschauer Straße raus, Lichtenbusch, Kinkebahn, Raeren, hoch zum Vennkreuz und nach Petergensfeld. Danach mal sehen." Auf einmal höre ich ihn hinter mir schimpfen. Überrascht drehe ich mich zur Seite. Ja, Lars ist weg. Er flucht über die vom Regen zurückgebliebene Pfütze. Sein neuer schicker Renner, den er als Jobrad bekommen hat, soll keine Dreckspritzer bekommen.
Hinter Lichtenbusch - aus irgendeinem Grund hat es sich so ergeben, dass Kollege B. irgendwo hinter mir fährt; in der letzten Reihe oder so - passiert es dann. Als der ungeduldige Lieferwagen endlich freie Bahn zum Überholen hat, wir die gerade und leicht abschüssige Straße zügig dahinrollen und ich mich nach B. umdrehe, gucke ich in unbekannte Gesichter. Zwei Fremde haben sich zum lockeren Rollen im Windschatten hinten an das Feld gehängt. Von B. keine Spur. Wo ist B.? In der letzten Kurve sehe ich eine zunehmend kleiner werdende Gestalt am Straßenrand über ein zunehmend kleiner werdendes Rad gebeugt.
Ich schere aus und drehe und lasse die Gruppe weiterrollen. "Was ist los?" frage ich B., als ich ihn erreiche. "Die Kette ist abgesprungen...", flucht er, "...und ich fürchte, dass mir das heute bestimmt noch öfter passieren wird." Aber schon schwingt er sich wieder auf. Kein Grund, um aufzugeben und auszusteigen. Gemeinsam rollen wir nebeneinander fahrend der Gruppe hinterher.
Vielleicht ist es eine willkommene Abwechslung und ganz entspannend, mal nicht auf das vorausrollende Hinterrad aufpassen zu müssen. Windschatten? Will B. nicht. Braucht er auch nicht. Auch so nähern wir uns zusehends der Gruppe. Wir unterhalten uns währenddessen über Martins Rad.
Die Sitzposition ist angenehm. Aber die Rahmenschaltung ist B. zu hakelig. Um blind schalten zu können, fehlt B. einfach die Routine. Und eine Hand vom Lenker nehmen zu müssen, um zu schalten, das ist B. in der Gruppe auch nicht geheuer. Ich kann das gut nachvollziehen. Und die
Bremsen greifen auch nicht so kräftig, wie er es von seinem Trekkingrad her kennt. Schaltung und Scheibenbremsen von Inas Gravelbike, das er tagszuvor auf dem Parkplatz probegefahren ist, sagen ihm mehr zu.
Bald haben wir wieder aufgeschlossen und fahren über gemäßigte Steigungen hoch ins Venn. Links und rechts leuchtet das Weiß der Birkenstämme vor dem blauen Himmel mit seinen vereinzelten Wolken. B. sagen die kleinen verkehrsarmen Straßen zu. Rechts geht es zur Wesertalsperre, erkläre ich. Die könne er komplett ohne Straßenverkehr umrunden. Oder auch durch das Getzbachtal abseits des Autoverkehrs hoch in die Eifel fahren. Die Vorstellung, hier mit einem Gravelbike jederzeit auch einen der unbefestigten abzweigenden Wege nehmen können, gefällt ihm.
Der Lenker sei unbequem, merkt B. an. Einfach zu dünn zum Greifen und keine Griffposition, die angenehm ist. Der Unterlenker sei ihm meist die Angenehmste, weil er dann auch die
Bremsen am Besten greifen kann.
Ich richte seinen Blick auf die hohe kraftsparende Trittfrequenz der jungen Mitfahrerin. Neunzig bis hundert, schätzen wir. Das könne er ja auch mal ausprobieren könne, da er sonst immer sehr auf Kraft fährt und auch auf der Reisfladentour lieber die dicken Gänge getreten hat. Er könne sich auch mal im Wiegetritt versuchen, wenn er an einer Welle ein vorübergehendes Schalten vermeiden möchte. Die Rahmenschaltung verlangt vielleicht andere Strategien.
Später geht es über für ihn bekanntes Terrain wieder Richtung Aachen. Auf dem Vennbahnweg rollt er irgendwann mal mit viel Schwung von hinten neben mich heran. Das lockere und schnelle Rollen ist angenehm.
Als wir mit der Gruppe wieder den Startpunkt erreichen, stehen nach zwei Stunden Fahrzeit 50 Kilometer auf dem Tacho. Das sei ihm auf diesem Rad auch erst einmal genug, sagt er. Die Fahrt zum jetzt optional anstehenden Bier würde er heute nicht mit antreten. Aber es habe Spaß gemacht. Wir verabschieden uns und ich rolle mit den anderen zur Vision.
Lars meint während der Fahrt zu mir, dass er ja Bedenken gehabt habe, als er B. da so auf der Bank habe sitzen sehen. Der alte Hobel, die Knolle auf dem Kopf, Trekkinghose und T-Shirt. Das könne ja was geben. Aber es hätte ja ganz gut geklappt. Ich lache und erzähle ihm von den Nussecken und dem Mineralwasser. Und von der Reisfladentour, die Lars bisher nur als rote Linie auf Strava kennt.
Kollege B. soll übrigens am Tag darauf gesagt haben, dass mit dem richtigen Material so einiges möglich sei. Man kann gespannt sein.