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Ich rede ja auch gar nicht vom Denken beim Fahren notwendigerweise, sondern auch bei der Auswertung des Trainings. Wenn ich deine Schilderung dazu lesse - nicht, dass sie nicht glaubwürdig wäre - erscheint es mir etwas, als könnte man daraus ableiten, dass jeder mit der individuell optimalen Tritttechnik geboren wird und keinerlei Notwendigkeit besteht, die nochmal anzuschauen. Ist dem aus deiner Sicht so?
Dem ist natürlich nicht so, und das ist auch aus meinen Beiträgen herauszulesen. Mein "Denkverbot" betrifft die Trainingsmethoden, die durch "falsches" Denken entstehen (die Alltagssprache kennt dafür den Ausdruck "Kopfgeburt") und die Selbstkontrolle beim Fahren.
Du sprichst von "anschauen" und bist dir selbstverständlich dabei darüber im Klaren, daß es nicht beim bloßen
Schauen bleibt. Und du setzt voraus, daß man
- die Ineffizienz beim Treten sehen kann
- und mit Hilfe von Auswertungen wie bspw. der Funktion der Pedalkraft über dem Kurbelwinkel diese visuelle Auswertung verbessern/verfeinern kann.
Ich halte das grundsätzlich für möglich, die Frage ist aber doch: Was siehst du da und welche Schlüsse ziehst du aus welchen Beobachtungen? Ich bin z.B. der Meinung, daß ein erfahrener Radrennfahrer/Trainer sehen kann, das an der Trettechnik was nicht stimmt. Seine Beobachtungen beschreibt er dann z .B. mit
- "der nickt komisch mit dem Kopf"
- "beim Fahren mit dem starren Gang hüpft die Kette"
- "der hüpft bei hohen Frequenzen auf dem Sattel"
- "der stampft zu sehr"
- "der Oberkörper ist zu unruhig"
- usw. usf.
Fällt dir da was auf? Mir fällt da einiges auf, und man kann das auch auf einen groben Nenner bringen:
- allen diesen Äußerungen liegt eine Bewertung zugrunde, allerdings kennen wir den "geheimen" Bewertungsmaßstab nicht und können ihn bestenfalls erahnen (es wird auch tw. regelrecht ein Geheimnis daraus gemacht, verbunden mit einer Verklärung in Richtung "das Geheimnis des Erfolgstrainers)
- gleichzeitig liegt allen Bewertungen aber auch etwas Intuitives zugrunde und sie beziehen sich eher auf den Gesamteindruck
- bei 3 der 5 Äußerungen kommt eine relative Bewertung mit "zu" vor (in einem Fall implizit in dem Wort "komisch"), d.h. grundsätzlich hat der Betr. nichts gegen Nicken, Stampfen und unruhige Oberkörper, wenn es nicht zu viel wird.
Wie ist das zu bewerten? Meine Meinung: Da unsere Augen bei der Ausführung der Bewegungen eine wichtige Rolle spielen, können die Erfahrungen von Radrennfahrern/Trainern natürlich auch eine sehr gute Basis bei der Beobachtung spielen. Weil aber die Rolle, die Augen und Großhirn bei der Ausführung haben, beschränkt sind, sind auch die Möglichkeiten der kognitiven Auswertung "nach Augenschein" beschränkt. An der Stelle sei nochmal betont: Die Rolle der Augen und des Großhirns ist deshalb sehr beschränkt, weil die Hauptrolle das Kleinhirn mit seinen besonderen Strukturen (spezielle Zelltypen, Stichworte "Afferenz- und Efferenzkopien" usw.) und die Regelkreise zwischen Muskel und Rückmark spielen.
Daraus folgt: Der Trainer kann der Menschheit einen Dienst erweisen, solange er intuitiv wahrnimmt, daß was nicht stimmt und Trainingsformen "verordnet", die aus seiner Sicht Abhilfe schaffen können.
Sobald er darüber hinaus unter Zuhilfenahme von in der "Trainer-Gemeinde" kursierenden Normen beginnt, zu Denken, ist Gefahr in Verzug.
Hermann L. Gremliza hat in der Gorbatschow-Ära mal gesagt "Neues Denken ist gut, Denken allein tät mir schon genügen!" Ich stimme ihm zu, aber für die Trainingslehre und ihre Anwendung gelten strengere Maßstäbe. Da tut mir "Denken allein" nicht genügen. Vielmehr muß man richtig Denken (zum Begriff "richtig": Es gibt fast immer mehr als eine richtige Lösung) und bestimmte, allgemeine Grundsätze beachten.
Ich habe nicht zufällig das Wort "Demut" ins Spiel gebracht. Das bezog sich vor allem auf den Einsatz digitaler Techniken mit mathematischer Auswertung. Die verschlimmern die negativen Folgen "falschen" Denkens. Und sie verstoßen gegen das Prinzip "Demut": Sie gehen nämlich davon aus, daß technische Entwicklungen einen Prozeß besser steuern können, als die Natur, die in diesem Fall mit einem mächtigen "Apparat" aus Sinnesorganen, Großhirn, Kleinhirn, Rückenmark, Muskelspindeln, Golgi-Sehnenorganen usw. antritt.
Wobei ich einräume: Es muß nicht notwendigerweise fehlende Demut sein, manchmal ist schlicht Dummheit ursächlich.
wird fortgesetzt, jetzt geht die Arbeit vor