Auf einem kleinen Flohmarkt in einem Vorort von Luzern, an einem leicht bewölkten Sonntagmorgen im Jahr 2008, entdeckte ich zwischen Kinderkleidern, Keramikvasen und alten Plattenspielern ein unscheinbares, silbernes Rennvelo. Auf einem handgeschriebenen Schild stand: „Fr. 100.–“. Als ich näher hinsah, stockte mir der Atem: Es war ein Masi Special von 1966. In diesem Moment war mir klar, dass dieses Rad eine Geschichte haben musste.
Hinter dem Tisch stand eine ältere Frau, eine Witwe. Sie erzählte mir, ihr Mann habe das Velo damals direkt bei Masi in Mailand, im Vigorelli, bestellt und nach neun Monaten Wartezeit persönlich abgeholt. Er sei damit Rennen gefahren, stolz auf jedes Detail, jeden Kratzer, der von Anstrengung und Geschwindigkeit zeugte. Während sie sprach, spürte ich, wie viel Erinnerung an ihrem Blick hing – und dass dieses Rad für sie weit mehr war als ein Verkaufsgegenstand.
Als ich nach dem Preis fragte, nannte sie erneut die hundert Franken. Ich konnte nicht handeln. Stattdessen holte ich zweihundert Franken aus meinem Portemonnaie und gab sie ihr. Sie schaute mich erstaunt an und fragte fast ungläubig, ob ich nicht verhandeln wolle. Ich antwortete, dass das Rad mehr wert sei – nicht nur materiell, sondern auch wegen der Geschichte, die daran hing. In dieser Sekunde veränderte sich etwas in ihrer Haltung: Aus einer Verkäuferin wurde eine Frau, die spürte, dass das Lebenswerk ihres Mannes in gute Hände kam.
Sie lud mich daraufhin zu sich nach Hause ein, um mir noch ein paar Campagnolo-Teile mitzugeben. Ich folgte ihr zu einer Villa, die man von außen nicht als solche erwartet hätte. Im Innern lagen in der Werkstatt sauber sortierte Schachteln mit Teilen, fein säuberlich beschriftet, als würde ihr Mann jeden Moment zurückkehren, um weiterzuschrauben. Sie überließ mir einige dieser Teile, und ich fühlte mich, als würde ich ein Stück seiner Leidenschaft mitnehmen, nicht nur Ersatzteile.
Dann sah ich es im Innenhof: ein rund 17 Meter langes, halbfertiges Schiff aus Edelstahl. Der Rumpf war bereits geformt, die Schweißnähte sichtbar, die Linien klar – und doch wirkte alles wie eingefroren. Ihr Mann, erzählte sie, sei Metallbauer gewesen und habe dieses Schiff bauen wollen, ein großes Projekt, vielleicht sein größter Traum. Ich stand vor diesem unfertigen Koloss und spürte plötzlich sehr deutlich, wie zerbrechlich Zeit ist. Mir wurde bewusst, dass man sich mit seinen Träumen beeilen muss – sonst bleiben sie wie dieses Schiff: begonnen, aber nie vollendet.
Das Masi nahm ich mit nach Hause. Ich restaurierte es behutsam, ohne seine Geschichte auszulöschen. Noch heute besitze ich es, und jedes Mal, wenn ich es anschaue oder fahre, denke ich an diesen Flohmarkt, an die Witwe, an die Werkstatt und an das Edelstahl-Schiff im Innenhof. Das Rad hat seinen Weg sogar in ein Buch von Alberto Masi gefunden, wo es aufgeführt ist – und für mich ist es damit nicht nur ein außergewöhnliches Velo, sondern ein fahrbares Denkmal für einen Menschen, dessen Träume ich ein Stück weitertragen darf.