Hallo liebe RRN-Gemeinde,
nach langer Zeit lasse ich auch mal wieder was von mir hören. Diesmal berichte ich über mein zweites Trainingslager in Mexiko. Das erste war ja für ein verlängertes Wochenende in Miami. Für das zweite habe ich mich "bereitschlagen" lassen und bin nach Cancun, Mexiko, geflogen. Zum einen hatte das den Vorteil, dass der Flug nur zwei Stunden von Toluca aus dauert, zum anderen wollte ich es mal erleben, wie es in Mexiko ist Rennrad zu fahren - bislang konnte ich immer "nur" MTB in einem abgesichterten Gelände in Toluca fahren.. und die Rundendreherei ist auf Dauer ziemlich anstrengend.
Geplant war Donnerstags hin, 4 Tage lang radfahren und Sonntag Abend spät wieder zurückzufliegen. Die Zeilen hier schreibe ich gerade am Flughafen, beim Warten auf die mexikanische Touristenkutsche. Schon mal vorab soviel, mein Fazit ist zwiespältig, sowohl zu diesem zweiten Trainingslager als auch zu Mexiko. Aber dazu später mehr. Sorry wenn die Zeilen zwischendurch etwas unorthodox wirken, vielleicht liegt es daran dass eine gutaussehende, aber leider auch extrem heissblütige und streitsüchtige Latina mir gegenüber sitzt und in vollster Lautstärke ein Stakato auf ihren Freund per Telefon ablässt. Seit 20 Minuten redet sie ohne zu Atmen - es wird mir immer ein Rätsel sein wie Frauen das schaffen. Da lob ich mir Deutschland, da schreien sie wenigstens nicht so beim Streiten übers Telefon an einem öffentlichen Ort... aber zurück zum Sport.
Am Donnerstag wollte mich morgens um 7 Uhr ein zuverlässiger Taxifahrer von meinem Appartement abholen, der mich nach Möglichkeit nicht entführen oder ausrauben sollte. Er war (natürlich) der Freund einer Arbeitskollegin. Aber mir egal, der Preis stimmte, und vor allen Dingen die Sicherheit. Als um 7:05 niemand kam, dachte ich mir noch nichts, da mich die mexikanischen Verhältnisse inzwischen assimiliert haben. Als um 7:10 kein Taxi kam, wurde ich doch etwas nervös, zumal man sich um die Zeit morgens in Toluca den Arsch bei 10°C abfriert. Um 7:25 Uhr kam ein Taxi - Freude. Es brachte mich zum Flughafen, und der Preis war fast auch der vereinbarte - mal 1,5. Naja, passte, um 50 Cent streite ich mich nicht. Hinterher habe ich erfahren, dass der Freund eine Autopanne hatte (wahrscheinlich am Abend vorher zuviel Tequila) und einen Kollegen als Vertretung geschickt hat!
Die erste Diskussion am Flughafen kam beim Einchecken auf, als die gute Frau mein Carry-on Köfferchen wiegen wollte und ich schlappe 3 kg über dem Limit war (13kg statt 3kg, nur 30% drüber - und das als Mann

. Nach einiger Diskussion und dem Einsatz aller meiner männlichen Vorzüge konnte ich die junge Damen überzeugen, dass mein Laptop 3kg wiegt und ich den doch sonst noch zusätzlich in einer Laptoptasche mitnehmen kann. Dank meines Lächelns nahm sie das irgendwann auch so wahr und hat mich durchgelassen. Weiter zur Sicherheitskontrolle.. glücklicherweise auch hier wieder eine junge Dame am Werk. Als sie meine Sonnencreme im 120g Tübchen sah, verstand sie zwar die Notwendigkeit für mich als "Gringo", aber meinte, es wären nur 100ml erlaubt. Auf meine Argumentation, dass die Tube ja halb leer wäre (war sie wirklich!), ging sie nicht ein. Sie lächelte zurück - Scheisse. Hier habe ich dann tatsächlich meine Sonnencreme verloren, aber sie war so nett, mir eine Rückholmöglichkeit für den Rückflug zu organisieren. Fragt nicht - ein Gutschein, für den Infopoint, wo ein Freund von ihr meine Sonnencreme verwahrt.
Somit hatte ich zumindest alle Hürden auf dem Flughafen geschafft und ging um eine Sonnencreme ärmer zum Boarding. Nach knappen zwei Stunden Schüttelflug landeten wir in Cancun, und mein gebuchter Shuttleservice brachte mich für 12$ innerhalb von 30 Minuten in mein Hotel. 106€ für 4 Nächte, ich hatte richtig tief ins Budget gegriffen. Naja, "you get what you pay", das hab ich gelernt. Ziemliche Absteige die ich mir da angelacht hatte, aber kaum war ich auf dem Zimmer wurde mein Rennrad auch schon persönlich ins Hotel angliefert. Soweit, so gut! Der gute Mann hatte zwar nicht meiner Bitte entsprochen, einen Imbus mitzubringen, um den
Sattel einzustellen, aber das konnte ich auch im Radladen erledigen lassen. Der war schließlich nur drei Kilometer entfernt. Noch heute frage ich mich allerdings, wie er mit dem
Sattel auf untersten Stellung überhaupt fahren konnte.. ein BMX ist nix dagegen, und der gute Mann wog bestimmt 100kg. Aber gut, das Rennrad schien stabil zu sein!
Meine erste Tour in Cancun war ein ziemlicher Schock. Ausgehend vom Hotel ging es zunächst über Kopfsteinpflaster, das Paris-Roubaix alle Ehre gemacht hätte, auf eine "wunderschöne Küstenstraße", so hatte ich es mir zumindest gedacht, dank Google Maps. Diese entpuppte sich allerdings als vierspurige Straße, die sehr stark befahren war. Adrenalino, hier musste ich an dich denken und ein bisschen grinsen. Du regst dich über deutsche Autofahrer auf, da kann ich nur schmunzeln - komm mal nach Mexiko! Nach dem 50gsten Bus, der dich mit 5cm Abstand überholt und dabei hupt, bist du froh über deutsche Autofahrer! Nach einer knappen Stunde lagen meine Nerven ziemlich blank und ich machte mich auf den Rückweg. Inzwischen verfluchte ich die Entscheidung, nach Cancun geflogen zu sein. So ein Dreck.. nichts als hupende, schnell fahrende Kamikaze-Piloten, die keinerlei Rücksicht auf ein Menschenleben / oder gar einen Radfahrer nehmen.
Diese Erfahrung ist sicherlich nicht einmalig für Mexiko, denn auch in Toluca erging es mir als Autofahrer schon ähnlich. Dieses Land hat viele Probleme, angefangen von Korruption über Gewalt bis hin zur "Wegguckmentalität", aber der fehlende Respekt gegenüber anderen Menschen, sei es im Auto, Rad, oder am Straßenrand, ist für mich fast das größte Problem! Versteht mich nicht falsch, die Zeit hier ist eine tolle Erfahrung, aber sie zeigt mir auch, wie unglaublich gut wir es in Deutschland haben. Früher habe ich die Regeln verflucht, inzwischen weiß ich sie zu schätzen. Wer einmal ein Land ohne Regeln erlebt hat, weiß wovon ich rede. Schon wieder abgeschweift, zurück zum Sport.
Der zweite Tag war ein Lichtblick. Ich probierte eine andere Route aus, die am Hafen vorbei Richtung Playa Blanca ging.. und man glaubt es nicht, tatsächlich handelte es sich um eine neue Straße, die komplett leer war! Zwar nur ca. 8 km, aber die anderen 8 km Hinfahrt zur Straßen waren ok vom Verkehr. Mein Trainingsgebiet war gefunden. Komplett im nichts war diese Straße entstanden, frischt geterrt, ohne Verkehr, ohne Anschluss, ohne Häuser, ohne Dörfer, sie führte einfach ins Nichts. Wahrscheinlich sollte hier mal ein Feriengebiet entstehen oder ein Wohnsitz für "arme Mexikaner". Nach 8km war der Spuk vorbei, und der Weg ging über in eine sandige Nebenstraße - ich drehte einfach um und genoß die Ruhe. Derart froh schaffte ich es tatsächlich, 125km auf dieser Route abzureißen - zwar wieder "im Kreis", aber immerhin ohne umgefahren zu werden.. schon besser. Zwischendurch sackte mein Herz einmal in die Hose, als ich mitten in der Einöde am Wendepunkt (also dem am weitesten von der Zivilisation entfernten Punkt) ein Motorrad mit zwei Militärpolizisten sah, die ihre MG geschultert im Schatten lehnten. Die beiden waren aber gottseidank nicht an einer gringonischen Einnahmequelle interessiert und ließen mich ohne kleines Schmiergeld weiterfahren..
Der dritte Tag lief dann wieder "fast perfekt". Neuer Tag, neue Route, diesmal sollte es nach "Playa Murelos" gehen, einem kleinen Fischerdörfchen. Dazu musste zunächst die "wunderschöne Küstenstraße" bezwungen werden, um im Anschluss weitere 30km auf der Autobahn zu fahren. Hust. Ja, ich weiß, war vielleicht nicht die beste Planung, aber wurde mir so empfohlen. Tatsächlich machte das Fahren auf der Autobahn, die sehr voll war, nach einigen Nahtod-Erlebnissen richtig Spaß. So konnte ich hier meinen Schnitt drastisch aufbessern. Durch die sehr nah überholenden LKWs bekam ich gewaltigen Anschub durch die Luftsäulen, die diese hinter sich herzogen und wie gesagt - nach einiger Zeit nimmt man sogar die Gefahr gelassen hin. Das Fischerdörfchen entpuppte sich als abgewrackte Hüttenansammlung, der Meerblick war nett, roch aber nach salziger "Meerkloake". Aufgrund der 37°C schwebte die Dehydrierung wie ein Damoklesschwert über mir und wurde durch ca. 750ml Gatorade pro Stunde abgewendet. Meistens, jedenfalls

Auf dem Rückweg surfte ich wieder am Highway in den wechselnden Luftdruckfeldern der LKWs, als mich komische Gedanken überkamen. "Jetzt bloss keinen Platten, das wäre die Hölle".. "Was ist eigentlich, wenn der LKW-Fahrer mal am Handy spielt und ein bisschen nach rechts schwenkt?".
Also, einer der Gedanken wurde Wahrheit kann ich euch sagen

Gottseidank (?) der erste. Nach weiteren 5 Minuten hirnloser Hämmerei auf die Pedalen rumpelte das Hinterrad komisch - ein Platten. Großartig, am Highway, bei 37°C. Aber ich hatte ja alles dabei.
Schlauch, CO2-Patrone,
Reifenheber.
Reifenheber? Wo zum Teufel.. ist der .. NEIN!! ARG! Was tun? Inzwischen floß der Schweiß in Strömen, aber ich musste ja den
Schlauch wechseln - half alles nix. Jeder, der seine Laufräder liebt, oder Materialfetischist ist, jetzt bitte nicht weiterlesen. Ein verzweifelter Choco suchte den Straßenrand wie ein Cracksüchtiger nach einem geeigneten
Werkzeug ab. Hrm, ein Verschlussring einer Cola-Dose - nein zu weich. Hmm, der Ast - nein bricht. Scheisse, dieser Vittoria-
Reifen ist auch noch brandneu und damit extrem stramm. Schlussendlich habe ich ein "
Werkzeug" gefunden

Der Schnellspanner vom Vorderrad eignete sich hervorragend, die Felge zu ruinieren, und nach 45 Minuten Fluchen, Blasen an den Daumen und etlichen Wutausbrüchen gelang mir das Wunder! Der Mantel war runter! Schnell den neuen
Schlauch rein, und die CO2-Patrone angesetzt.
An dieser Stelle mag der geneigte RRN-Tria mit Wettkampferfahrung sich schon denken, was passierte.. Pfffffffffffffffffft, und die Patrone war leer. Allerdings der
Schlauch auch. Natürlich hatte der ein Loch, warum auch immer. Ich war fassungslos. Nach 15 Minuten innerlichem Lamentieren mit mir und dem Diskurs der Frage "Warum hasst Gott mich so?!?!" hatte ich mich wieder gefasst und nutzt die letzte Möglichkeit, die mir blieb. Per Anhalter fahren. In Mexiko. Hust.. aber was sollte ich machen

Tatsächlich hielt nach 15 Minuten ein Busfahrer an.. ich war unendlich dankbar und hätte ihn am liebsten umarmt. Er kutschierte einen leeren Bus zum Depot und nahm mich mit - ohne Schmiergeld, kostenlos, und total freundlich!
Fantastisch! Nachdem er mich in Cancun irgendwo abgesetzt hatte, brauchte ich knappe 30 Minuten zu Fuss auf fantastischen SPD-Cleats im Rennradschuh (also ohne Gummiummantelung) um einen Radladen zu finden. Dieser fixte den
Schlauch für 20 Pesos (umgerechnet 1,10€) und ich kaufte noch schnell eine CO2-Patrone und
Reifenheber - man weiß ja nie

Das konnte mich an dem Tag natürlich nicht aufhalten, und gegen Abend, als die Sonne nicht mehr so brannte und es nur noch 35°C hatte, setze ich das Training mit einer kleineren Runde erfolgreich fort.
Der dritte und vierte Tag verliefen ereignislos, sprich kein Platten, kein Abgeschossen-werden-von-PKWS und es entwickelte sich bei mir eine Art Hassliebe zu Cancun - ähnlich wie zu Lanzarote (Clara! Lass es! Du bist wahnsinnig. 2016, Ironman Lanza.. hast du nix besseres in deinem Leben zu tun?! Es gibt so viele schöne Inseln!!!). Cancun ist auf der einen Seite ein Touristenmagnet wie jeder andere Ferienort in der Karibik - mit sattgrünen Palmen, glitzender Sonne, fetten Amerikanern, rücksichtslosen Taxifahrern, endlosen Traumstränden, offensichtlichem Touristennepp, aber auch authentischen Lokalen mit sehr leckerem Essen. Um ehrlich zu sein, mich zieht nichts in der Welt an solche Orte.. Weder in USA, noch in Südamerika, noch in Europa. Aber wer es mag, kann sicherlich auch in Cancun einen schönen Urlaub verbringen. Zum Rennradfahren eignet es sich jedenfalls nicht, wie ganz Mexiko. Aber das liegt weniger an dem Land, als an den grundsätzlichen Problemen hier.
Schlussendlich sind es >400km für 4 Tage geworden und ich bin zufrieden. Eigentlich wollte ich für die Transalp-Vorbereitung einmal 200km+ am Stück fahren, aber das infernalische Wetter ließ das einfach nicht zu, oder vielleicht auch meine Motivation. Aber auch so, mit zwei Tagen >120km, ist die Ausbeute ok. Zumal ich die Strecken für die Transalp selbst geplant habe und die längste Tour nicht >140km ist. Dürfte passen.
Trainingstechnisch ist die Mexiko-Zeit zwar nicht ideal, aber ich versuche, bis Ende Juni die Ausdauer maximal auszubauen und dann im Juli und August noch an der Kraftausdauer und Schwelle zu arbeiten. Wer jemals mehrere Alpenpässe hintereinander gefahren ist, und das über mehrere Tage, der weiß eh, dass der limitierende Faktor hier die Grundlage ist, und nicht die Kraftausdauer, wie viele meinen. Mal sehen, ob dieses Trainings"konzept" aufgeht.. Bin gespannt! Für mein Gefühl hab ich zu wenige Bergfahrten (gar keine), aber ich versuche dass über mein neues Rad und Gewichtsverlust zu kompensieren...
Wer das Land gerne erleben möchte, der sei ermutigt, und gewarnt - man muss sich schon auf einiges gefasst machen. Vom Hupen im Auto bitte ich übrigens abzusehen. Da hat der Vordermann im anderen Auto bei mir mal die Knarre gezückt und damit gewunken! Sehr nett. Auch auf wahllose Wutanfälle von Polizisten gegenüber "Gringos" sollte man gefasst sein. Einer hat mir mal während der Vorbeifahrt mit komplett aufgedrehter Sirene den Stinkefinger gezeigt. Überhaupt, haltet euch von Polizisten fern, es sei denn ihr habt Geld dabei. Selbst die Einheimischen wenden sich im Problemfall nicht an die Polizei, denn es wird fast immer ein Bestechungsgeld fällig. Die Höhe richtet sich nicht nach dem Problemfall, sondern nach dem Dienstgrad des Polizisten. Der Dorfpolizist ist recht billig mit 100-200 Pesos (max. 12 €), der Bundespolizist wird mit 500 Pesos (30€) schon teurer - zumal z.B. die einheimischen Ingenieure hier ca. 600-700€/Monat verdienen. Und damit sind sie schon die besser verdienenden Mexikaner. Die Wahlen sind zwar nicht gefälscht, aber die Wähler sind gekauft. Die Partei kauft die Stimmen der Armen - ein neuer TV, oder viel banaler - etwas zu essen - und schon ist man sich der Stimmen sicher. So wird hier die Regierung gebildet. Ein Mexikaner, der von unten nach oben gekommen ist, und sich plötzlich ein Auto leisten kann, oder eine Frau, oder eine teure Armbanduhr (Reihenfolge absichtlich) - der zeigt dann den anderen auch gerne, das sie Abschaum sind - und das äußert sich oft im Straßenverkehr mit rücksichtslosem Verhalten. Und wie so häufig in einem Entwicklungsland sind die Leute mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, was ja auch verständlich ist. Das führt hier aber z.B. dazu, dass die Umwelt absolut rücksichtslos ausgebeutet oder zugemüllt wird. Dementsprechend sind alle tollen Landschaftsziele meist voller Müll.
Trotzdem, wer auf den Geschmack gekommen ist und eine organisierte Rundreise in Mexiko macht, kann aber sicherlich viel tolle Natur entdecken - und die meisten Mexikaner sind sehr, sehr freundlich und zuvorkommend. Nur nicht im Straßenverkehr
Nächstes Trainingslager steht übrigens, 18.-22. Juni, San Antonio, USA. Nochmal tue ich mir Mexiko nicht an!
Machts gut, Train on und genießt das geregelte Deutschland - ich zähl schon die Tage zu meiner Rückkehr!
