AW: Trainingstagebuch: Dicker Mann auf dünnen Reifen
Nicht zanken, Kinners!
Meiner Meinung nach ist ja jeder, der die 24 Stunden als Einzelstarter bestreitet, nicht von dieser Welt. (Und genießt meinen allergrößten, ungläubigen respekt, unabhängig von der Rundenzahl.

) Aber das nur am Rande...
Erste Etappe
Samstag, 20.08.2011
Nachdem Matt eingetroffen ist, sind wir ziemlich gut gerüstet: Dass drei Standpumpen in der Freiluftwerkstatt stehen, ist bei ebenso vielen anwesenden Rennradlern wohl noch normal, aber mit zwei hochwertigen italienischen Kaffeemühlen - ich hatte auch eine mitgebracht - dürften wir in dieser Spezialwertung ziemlich weit vorne liegen. Ein zutraulicher Sportsfreund von der Nachbarparzelle verwickelt uns auch direkt in ein Beratungsgespräch und lässt sich beide Geräte vorführen, kauft aber keins.
Unter strahlender Sonne, ein Tässchen des vermutlich besten auf dem Gelände verfügbaren Kaffees auf der Hand, erreicht uns die Nachricht, dass des Kenianers Sohn vom Hund der Vermieterin krankenhausreif gebissen wurde und daher mit seinem (also Lars') Eintreffen nicht so bald zu rechnen ist. Der Köter habe nach Auskunft seines (also des Köters) Frauchens aber wohl nur spielen wollen, und deswegen den Kleinen (also Lars') nicht direkt aufgefressen, sondern nur ein bisschen traumatisiert. Das eine wie das andere mache sie (also die blöde Töle) aber nur ganz selten.
Da noch ein paar Stunden Zeit bis zum Start bleiben und ich ohnehin erst als dritter für unser Team auf die Runde gehen werde, setze ich mich aufs MTB und erkunde das Gelände.
Unser Fahrerlager befindet sich im nördlichen Teil der aktuellen Grand-Prix-Strecke in Sichtweite der Nordschleife. Wo Klos und Duschen sind, weiß ich schon seit gestern. Was mich jetzt interessiert, ist die Parzellenreihe J, weil da die Altmetaller hausen. Nach ein paar Minuten habe ich sie gefunden: Ausgangs der NGK-Schikane kündet eine ganze Bataillon glänzender Klassiker von der Anwesenheit der Liebhaber schlanken Stahlrohrs. Da mein Fahrzeug aus dem gerade noch geduldeten Jahrgang 1990 stammt, gewährt man mir Einlass ins Camp, und ich werde begrüßt von den Forumsfreunden BIKAHOLIC aka Alex, Fleischsalatpirat (Stefan), marcfw (ich vermute: Marc – nennt mich Sherlock!) und drexl (ööhh: drexl?). Vorletzterer (also Marc) hat tatsächlich daran gedacht, mir Pedalriemen für mein Koga mitzubringen, was ich natürlich vollkommen vergessen hatte, für die ich ihm aber freudig mein letztes Bargeld aushändige. Im Fahrerlager wartet ja mein Verleger darauf, angepumpt zu werden.

Nach der eingehenden Würdigung der versammelten zweirädrigen Schönheiten und ein paar Fachsimpeleien verabschiede ich mich fürs Erste wieder, fahre noch ein bisschen über das Gelände, bestaune die Preise der ringeigenen Tankstelle (1,56 € für den Liter Diesel) und die in die Haupttribüne integrierte Achterbahn (!), bevor ich mich wieder in Richtung Basislager bewege. Da trifft zu meiner freudigen Überraschung auch schon Lars ein, der kurzerhand sein Gepäck geschultert hat, zum Ring geradelt ist und zu berichten weiß, dass es dem Junior schon wieder ganz gut geht.
Langsam aber stetig steigen die Temperatur und die Spannung. Rainer und Matt haben sich schon ins Renndress geworfen und drehen eine Runde über die Grand-Prix-Strecke, angeblich zum Aufwärmen, mutmaßlich aber auch zum Beruhigen. Das geht doch auch anders, denke ich mir und zünde mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Das ist zwar bestimmt nicht das Schlauste, was ich in dieser Situation tun kann, und ich hatte mir auch fest vorgenommen, wenigstens heute keine mehr zu rauchen, aber ich bin ja so schwach! Ein sabbernder Lappen, um genau zu sein. Außerdem habe ich ja noch drei Stunden Zeit und: Hey! Wer will schon schlau sein? Also jetzt außer dem Dalai Lama?
Als Matt und Rainer vom Einrollen zurückgekehrt sind, lässt Lars sich die einigermaßen komplizierte Streckenführung vom Fahrerlager zur Einfahrt in die Nordschleife und die abschließende Runde über den Grand-Prix-Kurs erläutern. Ich beschließe, dass es nicht zu früh ist, mich auch mit diesem nicht ganz unwichtigen Detail zu befassen und versuche, Rainers Ausführungen zu begreifen. Das misslingt und ich fürchte, schon in der ersten Kurve nach dem Fahrerlager in den Gegenverkehr zu geraten, wenn ich schließlich den Transponder übernehme.
Den hat Matt inzwischen zur Optimierung der Wechselzeiten in einer leeren Flasche verstaut, diese zugeklebt und mit Edding auffällig beschriftet, damit nicht irgendwer im Eifer des Gefechts Apfelschorle hineinkippt. Dann steckt er die Flasche in den Halter und radelt mit einem knappen „Bis später!“ in Richtung Start. Jetzt fällt mir auch auf, dass die Stimme des Ansagers, dessen aufgeregte Daueranimation seit den Laufwettbewerben am Morgen zu einem beinahe unbemerkten Hintergrundgeräusch geworden ist, ins leicht Hysterische kippt, und dass die Stimmungsmusik, mit der wir seit Stunden beschallt werden (offenbar rotieren im CD-Wechsler ‚Now that’s what I call grober Unfug’ und ‚Worst of Dr Albern & Friends’) von mörderlaut auf ohrenbetäubend aufgedreht wurde. Kurz: Einiges deutet darauf hin, dass es bald losgeht, nicht zuletzt die Uhrzeit.
Wir bewegen uns im Laufschritt zum Start und erleben, wie eine Gruppe „normaler“ Jedermänner auf die Reise geschickt wird, bevor das 1400-köpfige Feld der 24-Stunden-Fahrer an die Linie rollt. Ich versuche in dem Riesenpulk Matt auszumachen, aber ich sehe ihn nirgends. Was ich allerdings sehe, ist eine wohlgenährte Frau in einem grellpinken Cocktailkleidchen, die am Rande des Getöses zwei winzige, wollige, weiße Schoßhündchen Gassi führt. Auf der Start- und Zielgeraden des Nürburgrings. Auf die Idee muss man auch erstmal kommen.
Dann fällt der Startschuss. Der Ansager gibt noch einmal alles, bevor sie ihn abholen kommen, und mir wird etwas schwindelig: Einerseits, weil mir klar wird, dass es jetzt kein Zurück gibt, andererseits, weil ich direkt vor einem Lautsprecher stehe. (Wahrscheinlich kann ich mich deswegen nicht erinnern, welche Musik zum Start lief. Es war aber weder Europes ‚Final Countdown’ noch Wolle Petrys unsäg-, ääh: unsterbliches
‚Hölle, Hölle, Hölle!’ meine ich. Dabei hätte das ja mal echt gut gepasst: „Das ist Wahnsinn! Warum schickst Du mich in die Hölle? Höllehöllehölle?“ - Ich war drauf und dran, Haus und Hof darauf zu verwetten.)
In den folgenden knapp zwei Stunden nehme ich nicht allzuviel wahr. Dass Matt allerdings schon nach 40 Minuten unter unserem schattigen Aussichtspunkt einen Schlussspurt im Wiegetritt par excellence hinlegt, wird mir wohl für immer im Gedächtnis bleiben. Er überreicht die Transponderflasche schließlich nach 42 Minuten an Rainer, der zwar zehn Minuten mehr braucht, aber trotzdem dafür sorgt, dass ich schon nach etwas mehr als anderthalb Rennstunden auf die Strecke darf.
Oder muss? Anfangs fühle ich mich jedenfalls eher unwohl auf dem Rennrad, das sich irgendwie anders anfühlt. Immerhin ist der Streckenverlauf kein Problem: Nach ein paar scharfen Kurven befahre ich mit vielen anderen, sowohl Mountainbikern als auch Rennradlern die Boxengasse entgegen der normalen Fahrtrichtung, dann folgen noch zwei Schlenker, nach denen die MTBler rechts abbiegen, und dann habe ich die asphaltgewordene Legende Nordschleife unter den Rädern.
Der Unterschied ist gewaltig: Statt der ohren- und augenbetäubenden Science-Fiction-Kulisse des modernen Teils des Rings umfängt mich jetzt sattes Grün, statt Kirmestechno höre ich nur Atmen, Kettensurren, Vogelgezwitscher und das Rauschen des Fahrtwinds. Und statt der geometrischen, retortenhaften Wegführung der Grand-Prix-Strecke habe ich eine Straße vor mir, die sich in die hügelige Waldlandschaft schmiegt und zu sagen scheint: „Ich bin uralt, ich bin wild, und ich gehöre hier hin.“
Mein Vorsatz, es ruhig angehen zu lassen, gerät angesichts dieses Rübezahls von einer Rennbahn schnell in Vergessenheit. Stattdessen gehe ich bei jedem Anstieg aus dem
Sattel, stürze mich tief geduckt in die ersten kurzen Abfahrten, bis ich um eine Kurve biege und die Fuchsröhre vor, bzw. unter mir sehe.
Der Tacho zeigt 80 km/h an, als mein Rad zu schlingern beginnt. Das Vorderrad schlägt wie wild und scheint ein Eigenleben zu entwickeln, dass ich nackte Angst bekomme und den Lenker krampfhaft umklammere. Gleichzeitig versuche ich, den Rahmen mit den Knien zu fixieren, aber es hilft nichts. Während ich ein Stoßgebet gen Himmel sende, der Höllenritt möge bald glimpflich enden, zischt eine Anzeigentafel an mir vorbei, die fröhlich verkündet: „Sie fahren 89 km/h“. Ich habe mir noch nie so sehnlich einen Anstieg gewünscht.
Mein Wunsch wird bald erfüllt. Und wie. Im Vorfeld habe ich Karten und Profile gewälzt, um mir ein Bild vom Anstieg zur Hohen Acht zu machen. Das Ergebnis war beruhigend: 5 Kilometer bergauf, in der Spitze zwar auch mal mit 18, im Schnitt aber mit gerade mal 6 Prozent Steigung, also halb so wild und auch nicht viel schlimmer als Strecken, die ich schon bewältigt habe. Aber wie heißt es so unschön? Grau ist alle Theorie. Oder auch: Am Arsch hängt der Hammer.
Schon nach zwei Kilometern verfluche ich mich für jede einzelne Zigarette, die ich jemals geraucht habe. Nach drei Kilometern schimpfe ich mich einen geizigen Vollidioten, weil ich gedacht habe, mir die Investition in eine neue Kassette mit 28er Rettungsring sparen zu können. Nach vier Kilometern schöpfe ich kurz Hoffnung, als es flacher wird. Nach viereinhalb Kilometern verlässt mich jeder Lebensmut, als ich ausgangs des Caracciola-Karussels sehe, was mit der Rennradfahrerplattitüde von der an die Wand gemalten Straße wirklich gemeint ist. Nach vierdreiviertel Kilometern steige ich zitternd vom Fahrrad und schlage fast lang hin, weil mich meine Beine nicht tragen wollen. Gescheitert, keine zweihundert Meter vor der Verpflegungsstation. Und das schlimmste ist: Ich weiß ganz genau, wenn ich es jetzt im ersten Anlauf nicht geschafft habe, schaffe ich es gar nicht mehr.
Nach einer halben Minute fühle ich mich immerhin in der Lage, weiterzumachen. Zornig stapfe ich die letzten Meter hinauf und schwinge mich wieder in den
Sattel. Mit einer großen Portion Wut auf dieses archaische Ungetüm von Straße, aber vor allem auf mich selbst stürze ich mich in den Rest der Runde. Meine Stimmung bessert sich zum Glück bald, weil ich spüre, dass ich das letzte Drittel wieder ganz ordentlich bewältige, auch wenn ich bei zwei oder drei zehnprozentigen Gelegenheiten beschließe, dem nächsten, der mir erzählt, nach der Hohen Acht folge „nur noch Pillepalle“ und ab der Döttinger Höhe sei „der Wind der einzige Feind“, kräftig eins auf die Nuss zu geben.
Als ich auf die Start-/Zielgerade einbiege, ist der Ärger vollends verflogen. Dann schiebe ich eben sechs Mal über den Scheißberg, na und? Jetzt jedenfalls fahre ich da, wo sonst Schumi fährt, und auch fast genauso schnell. In der Boxengasse kommen mir die armen Schweine entgegen, die ihre nächste Runde jetzt beginnen. Vor mir liegt vorerst nur noch eine Runde durch das, was Lars später treffend das „Woodstock des Radsports“ nennen wird: Der komplette Grand-Prix-Kurs ist ein riesiges Fahrerlager und die letzten 4 Kilometer meiner Runde sind gesäumt von Hunderten, ach: Tausenden von Wohnmobilen, Pavillons und Zelten.
Nach der Warsteiner-Kurve kommt noch der schnelle Advan-Bogen, dann geht’s noch einmal kurz bergauf zur NGK-Schikane und dann rechts ab ins Fahrerlager. Nach 57 Minuten übergebe ich an Lars. Jetzt ne Zigarette und ein Bier und dann unter die Dusche, das wäre was!