Früher war alles besser? Also früher war auf jeden Fall auch gut:
Da bin ich damals als junger Bursche mit meinem Rad von meiner Freundin nach Hause gefahren. Mitten im Nirgendwo des Kottenforstes hat sich dann plötzlich die Kette vom Antrieb abgerollt und ich trat ins Nichts. Ich habe dann angehalten und bin ein paar Meter zurückgegangen. Da lag die Kette wie eine tote Blindschleiche langgestreckt auf dem Weg. Das hatte ich damals noch nie erlebt. Ich hatte gerade die gerissene Kette eingesammelt und dann das Schieben begonnen - grob überschlagen lagen vor mir vier Stunden Waldspaziergang bis nach Hause -, da hielt neben mir ein Rennradfahrer und fragte, ob er mir helfen könne.
Er zog ein Miniwerkzeug aus der Tasche, kürzte die Kette um ein Glied, vernietete die Kette wieder und wünschte mir eine gute Fahrt. Ehe ich mich's versah, hatte er sein Miniwerkzeug wieder in seine Trikottasche gesteckt und rollte flott wie mit Engelsflügeln davon. Aus der Trikottasche, in der er das Miniwerk hatte verschwinden lassen, ragte schwach leuchtend ein kleiner Heiligenschein, den er gar nicht aufgesetzt hatte.
Heute ist aber auch gut. Ah, Moment, aber nicht immer:
Ich erinnere mich noch gut, wie mir in einem der letzten Winter auf dem Weg zur Arbeit in einer einsamen, dunklen Senke die Kette vom größten Ritzel heruntergefallen ist und sich zwischen dem Ritzelpaket und den Speichen verkeilt hat. Ich stellte mein MTB kopfüber auf
Sattel und Lenker und inspizierte das Dilemma. Gibt es ein deutlicheres Indiz, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, wenn die Räder eines Fahrrades keinen Kontakt zum Boden mehr haben, sondern stattdessen in die Luft zeigen?
Es näherte sich ein Licht. Ich schaute den Fahrer des Pedelecs direkt an, während dieser im Dunklen wortlos an mir vorbeisurrte. Noch nicht einmal zu einem "Guten Morgen" hatte es seinerseits gereicht. Ein "Guten Morgen", das ihn noch nicht einmal Schwung gekostet hätte und meinen Morgen tatsächlich besser gemacht hätte. Wie freundlich hätte ein "Guten Morgen" geklungen, auch wenn es verknüpft gewesen wäre mit einem "Ich kann leider nicht helfen, weil ich wirklich spät dran bin." Oder: " ... weil ich zwei linke Hände habe." Oder was auch immer.
Mir haben meine Eltern beigebracht, dass man im Nirgendwo alle Menschen grüßt. Und dass man sich erkundigt, ob man anderen helfen kann. Das handhabe ich auch noch immer so und muss sagen, dass sich da zum Teil schöne Begegnungen ergeben. Sei es, dass ich mit dem MTB neben einem Rennradfahrer halte, der darüber verwundert ist, dass an meinem
Werkzeug ein Speichenspanner ist, mit dem er seine gerissene Speiche entfernen kann. Damit hätte er nicht gerechnet. Oder sei es, dass ich wie die letzten Tage erst geschehen mein Tempo verlangsame, weil hier jemand mit einem offensichtlichen MdRzA-Setting (zwei Ixon, zwei Rücklichter, Rucksack) sein Rennrad schiebt; ihm war aber das Tretlager verreckt und wir haben uns in seinem Schiebetempo eine Viertelstunde wunderbar über alles Mögliche ausgetauscht.
Und manchmal ergeben sich daraus
Geschichten, die mich und vielleicht auch den anderen mehr verändern, als wenn ich mit einem "Platz da! Stravasegment!" an dem anderen vorbeifliegen würde.