Dieser Ötztaler hat Geschichten für mehr als nur einen langen Abend am Kamin abgeworfen. Dieser Tag wird in den Radcore-Annalen einen besonderen Platz haben. Die Schilderungen der Kollegen Shimagnolo und Bianchetto stapeln tief. Die Abfahrt vom Kühtai als "schnell zu durchschreiten" empfinden konnten nur Hochseesegler oder Tiroler Urviecher und/oder mit zusätzlichen natürlichen Schutzschichten gesegnete Mitmenschen. Für alle andern hatte diese halbe Stunde zwischen Kühtai und Kematen Überlebenstraining-Charakter. Wenn man sich bei 60 km/h und wie aus Kübeln herunterprasselndem Regen fragen muss, welcher Körperteil wohl als nächstes so verkrampft, dass er nur mehr teilweise einsatzfähig sein wird und wenn sich der Brustkorb zusammenzieht, als ob einem jemand Eiswasser in den Nacken schüttet, dann ist das keine Bagatelle. "Grenzwertig", sagte Steinbach.
Wer diese Grenze nicht überschritten hat, war nicht allein. Von 3.300 Starten sind 2.300 ins Ziel gekommen. 700 Angemeldete haben sich entschieden, erst gar nicht aus dem Bett zu kriechen. 83 Frauen haben gefinished, unter ihnen solche Damen wie
Claudia Beitsch, die aus 3.000 Kandidaten ausgewählte deutsche Teilnehmerin am "Rennen zum Südpol". Umso tiefere Verbeugung vor der "zachen Haut" Gundl!
Es wird also auch bittere Geschichten aus dem Besenwagen geben. Geschichten von pulverisierten Ambitionen und von 1.000 Kilometer angereisten Nordlichtern, deren Traum vom ersten Ötzi nach einem Jahr voller Entbehrungen schon am Kühtai zerplatzt.
Es wird auch andere Geschichten geben. Die vom legendären Chepadaja ("Ich werde die Pässe knapp unter der Schwelle fahren. Laut Pansys Marschtabelle kann ich in 8.31 finishen"), der in Moos ein Gasthaus betrat, um…
Oder Geschichten von Gueldensternn, der, als er sich am Fuß des Timmel zum wiederholten Mal ans Aufpumpen seines immer wieder rätselhaft erschlaffenden Hinterreifens macht, beschienen von der warmen Sonne und umsorgt von drei begeistert Müll entsorgenden Einheimischen-Kindern, längst in eine heiter-resignative Stimmung hinübergeglitten ist und zu verstehen begonnen hat, dass man den Ötztaler Jahr für Jahr immer und immer wieder fahren muss, nicht wegen irgendeiner Finisher-Zeit, sondern nur um nachzusehen, wie sich die Belagverhältnisse auf der Jaufenabfahrt entwickeln, welche Wetterphänomene es so in den Bergen gibt, um die facettenreichen Pedalierstile der Teilnehmer zu studieren, eine bestimmte Sequenz in andern Lichtverhältnissen zu erleben oder mit einem Unbekannten ein kurzes Wort zu wechseln im Wissen, dass sich auf den immergleichen Rampen und Kehren in unendlichen Variationen immer wieder Ähnliches ereignen und Gleiches gesagt werden wird, wie zum Beispiel das freundliche Ersuchen an Steinbach, doch bis zur Passhöhe einfach mal „die Goschn“ zu halten, dazwischen aber immer wieder das Unberechenbare hereinplatzen und für überraschende neue Interpretationen einer wohlkomponierten, altbekannten Symphonie sorgen wird. So wird man den Ötzi auch noch als Pensionär jährlich einplanen müssen, als Wallfahrt oder komprimierten Kuraufenthalt oder als Vergewisserung, dass alles immer gleich anders ist.
Freut euch also auf die Geschichten!