Der Kollege B. zwei Türen weiter kommt jeden Tag mdRzA. Hat sich vor nicht allzu langer Zeit ein neues Trekkingrad geleistet und ist mehr der Abenteuertyp. Er sucht sich von sich aus immer wieder große Rad-Projekte und ist dankbar für Inspiration. Ich habe noch immer ein klein wenig schlechtes Gewissen, dass ich ihm letzten Sommer von einer Bäckerei in der Eifel erzählt habe. Bei der gäbe es, so hätte ich gehört, so gute Nussecken nach altem Rezept. Er ließ sich nicht mehr
bremsen, obwohl ich mit allen Mitteln versucht habe, ihm noch ein wenig Realismus einzuimpfen, was ihn denn erwarten wird. Aber selbst die Beschreibung der Anstiege auf quaeldich.de haben ihn nicht abgeschreckt. Nach dem Wochenende kam er breit grinsend mit 90 Kilometern in den Beinen und mit Nussecken ins Büro und meinte, dass es die Anstiege und Abfahrten wirklich in sich gehabt hätten. Aber er plant schon wieder.
Sein nächstes Projekt: Der komplette Vennbahnweg von Luxemburg nach Aachen an einem schönen Sommertag. Nebenbei habe ich ihm - diesmal im Scherz - vom belgischen Reisfladen in St Vith erzählt, von dem ich gehört hätte. Seine Bürokollegin, in deren Namen ich hier im Thread nach einer Radempfehlung gefragt habe, hat ihn spontan sogleich in die Pflicht gerufen, dass er uns ja dann wohl einen Fladen mitbringen müsste. Jetzt haben wir alle Hände voll damit zu tun, ihm die Geschichte mit dem Reisfladen wieder auszutreiben. Der Fladen würde die Fahrt nicht überleben.
Lange Zeit hatte Kollege B. auf den schönen Sommertag gewartet. Am Besten wären so um die 30 Grad und Sonnenschein bis zum Abwinken. Seinen Plan hatte er mit der Zeit immer weiter angepasst. Statt die Fahrt über den Vennbahnweg von dessen Beginn in Luxemburg aus anzutreten, wolle er nun lieber in Gerolstein starten, über die Bahntrassen des Eifel-Ardennen-Radweges und durch das Kylltal auf den Vennbahnweg stoßen und dann nach Hause rollen. Zum neuen Startpunkt in Gerolstein käme er leichter mit der Bahn hin. Es stünden ihm so 130km auf seinem Trekkingrad bevor.
Seine Bürokollegin I. und ich bekräftigten ihn darin. Natürlich machten wir wieder blöde Witze. Wir hätten gehört, dass es in Gerolstein so gutes Mineralwasser gäbe und er solle uns doch eine Kiste davon mitbringen. Kollege B. lachte. Und er wartete auf den schönen Sommertag.
Auch ich wartete auf diesen schönen Sommertag. Wenn der Norweger ein Wochenende mit Sonnenschein und schönen Temperaturen bedachte und ich Kollege B. darauf hinwies, dann war aber immer etwas nicht richtig. Das perfekte Radwetter sei für ihn sonnig und heiß. Im Zweifelsfall waren ihm die 25 oder 28 Grad einfach nicht genug. Man hätte meinen können, dass sein Plan mit der Zeit nur noch zu einer leeren bedeutungslosen Phantasie geworden sei. Und hätte ich nicht von der Nusseckengeschichte gewusst, so hätte ich sein Vorhaben auch schon längst abgeschrieben.
Wir warteten und es verging die Zeit. Die blöden Witze ebbten ab. Irgendwann kam die Sommersonnenwende. Die Tage wurden wieder kürzer und auf meinen Fahrten zur Arbeit und wieder nach Hause spürte ich, wie es zunehmend abkühlte. Ich sah das Projekt in Gefahr. So richtig heiß würde es nicht mehr werden, sagte ich zu ihm. Sollte dieser Sommer etwa wirklich ohne ein großes Radabenteuer verstreichen?
Nein. Auf B. war Verlaß. Ende August nahm er sich einen Freitag frei. Frühmorgens fuhr er dann mit der Bahn nach Gerolstein, zapfte dort frisches Mineralwasser in seine Flaschen und fuhr los...
... und als ich am Nachmittag früh Feierabend machte und meinen Heimweg auf seine Route anpasste und ihm entgegenfuhr, um ihm auf seinen letzten Kilometern ein wenig Gesellschaft zu leisten und gegebenenfalls aufzumuntern, verfehlten wir uns, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits wieder sein zu Hause erreicht hatte. Nun hatte er also nach seiner damaligen Nusseckentour mit der wagemutigen Querung des Rurtals ("Vito, die Abfahrt war schrecklich. Das ging Ewigkeiten nur steil bergab. Ich habe die ganze Zeit gebremst. Und dann kamen da auf einmal ein paar Rennradfahrer an mir vorbeigeschossen. Wie die Irren. Und als ich endlich in der Talsohle war, dann kam der Anstieg. Mindestens genauso steil. Und das nahm kein Ende. Und das Ganze dann noch einmal auf dem Rückweg!") seine zweite Mammuttour absolviert. Diesmal zwar ohne nennenswerte Steigungen, dafür hatte er aber seine damalige Distanz um 40 Kilometer übertroffen.
Jetzt fragt Ihr Euch wahrscheinlich, warum ich Euch das so ausführlich schreibe? Nun...
Vergangenen Dienstag beim Mittagessen meint Kollege B. plötzlich grinsend zu mir: "Vito, ich will nach Sankt Vith zu den Reisfladen fahren. Was für Kleidung würdest Du mir empfehlen, wenn ich da nicht so viel Geld investieren möchte? Was sind da so die kritischen Sachen?" Ich traue meinen Ohren nicht. Das, was ihm im Sommer zu weit erschien, soll jetzt ausgerechnet im Winter gelingen? Wie weit das sei, frage ich ihn. "Einfache Strecke 90 Kilometer." Also 180 für hin und zurück. Bürokollegin I. schaut mich feixend an und nutzt die Gunst der Stunde, um Kollege B. in seinem wahnsinnigen Vorhaben zu bekräftigen und feuert kräftig an.
Draußen fallen leise ein paar kleine Schneeflöckchen am Fenster vorbei und schmelzen bei ihrer Landung auf dem Boden, während ich mir meine Antwort überlege. Ich weiß, dass er es ernst meint. Ich weiß aber auch, dass er keine Vorstellung von dem hat, was er sich da in den Kopf gesetzt hat und mir gerade breitgrinsend erzählt. Ich weiß auch, dass er sich nicht entmutigen lassen wird. Also versuche ich ihm wieder einmal ein wenig Realismus einzuimpfen, was ihn erwarten wird. Bei einem bin ich mir sicher: Er wird die Fahrt antreten.
Ich erzähle ihm, dass 50 Kilometer mehr eine andere Welt sein können. Dass Winterkilometer nicht mit Sommerkilometern gleichzusetzen sind. Dass es sich durchaus lohnt, für Fahrten bei tiefen Temperaturen für die Klamotten Geld auszugeben. Ich erzähle ihm von kalten Fingern und kalten Zehen. Von Handschuhen, Überschuhen und Einwegzehenwärmern für den Notfall. Vom eisigen Gegenwind und Buff-Tüchern. Von Glätte und Schnee... und dass es nicht verkehrt und verwerflich ist, einen Plan B zur Hand zu haben. Und am gleichen Abend erzähle ich zu Hause Frau Leone davon und sage: "Der B. ist doch verrückt!"
Zwei weitere Abende danach. Ich sitze neben Frau Leone zu Hause auf dem Sofa. "Stell Dir vor", sage ich zu ihr, "ich habe heute etwas gelernt. Die Pläne anderer sind so lange verrückt..." Frau Leone unterbricht mich kopfschüttelnd und verdreht dabei die Augen: "Sprich nicht weiter. Ich weiß, was kommt."
Ja, ich weiß auch nicht so recht, wieso. Wie ich da so bequem mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf dem Bürosofa bei Kollege B. und der Bürokollegin I. sitze und den festen Willen, den Eifer, die Leidensbereitschaft, den Optimismus, den Humor und die Abenteuerlust spüre, weiß ich, dass das nicht verrückt ist, sondern ein Spaß wird, wenn wir gemeinsam fahren. Wenn also alles passt, dann gibt's zwischen Weihnachten und Silvester eine Reisfladentour. Ich freu mich drauf.
Die Pläne anderer sind so lange verrückt, bis man sich selbst dazu entscheidet