Der Hypotoniker ist ein Morgenmuffel mit beträchtlichen Anlaufschwierigkeiten. Weckerklingeln ist ihm ein Gräuel, reißt ihn gar das Telefon aus dem Schlaf, rennt er blind gegen die Schranktür, der Tag ist gelaufen. Vor dem Rasierspiegel, es kann auch ein Schminkspiegel sein, möchte er sitzen. Zwischen Aufstehen und Frühstück hat er jeden Morgen seine suizidale Phase. Sollte er mit einem Partner verheiratet sein, der vor dem Frühstück schon geschirrklappernd oder gar singend durch die Wohnung läuft, denkt er nicht an Scheidung sondern eher an Mord.
Als Einkaufsbegleiter seiner Kleider aussuchenden Ehefrau überkommt ihn spätestens nach der dritten Anprobe der Fluchtreflex "raus hier" - zumindest aber braucht er einen Stuhl. Ist es eine "Sie", geht's ihr auch nicht besser. Hat sie die herunter gefallene Nähnadel auf dem Teppich gefunden und richtet sich wieder auf, muss sie sich mit beiden Händen an der Tischkante festhalten, um nicht umzufallen. Ihr wird schwindlig, wenn nicht gar schwarz vor Augen.
Beim Zahnarzt oder der Blutentnahme ist der Kollaps nicht weit. Hypotoniepatienten entnehme ich Blut zur Laboruntersuchung nur im Liegen. Wer schon liegt kann nicht mehr umfallen. Und wenn der Hypotoniker einen dieser unsagbar dummen Fragebogen, die zur Diagnose der sogenannten Depression dienen, ausfüllen muss, dann kreuzt er so viele "ja" an, dass er die Fehldiagnose "Depression" weg hat - und nicht mehr los wird. Schon gar nicht, wenn er erst auf die entsprechende medikamentöse Schiene geschoben worden ist.