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Le 1000 du Sud 2020

Dann mal gutes Gelingen! Und für alle und jeden, bleibt gesund!

@fafnir aber auf dem Rad eine Maske? Draußen, alleine? Habe ich das richtig gelesen?
 
Der 1000 du Sud 2020

„Hier ist es so schön, dass es weh tut!“, entfährt es dem Heiner, nachdem wir zu einem letzten Tarte-Baguette-Tomaten-Feigen-Käse-Einkauf in einigen der winzigen Läden hinter Sandsteinfassaden verschwunden waren. Offene Türen geben den Blick auf all die in satten Farben leuchtenden Köstlichkeiten frei. Ein von mächtigen Bäumen gesäumter kleiner Platz im beschaulichen Cotignac, die letzte Innenansicht unseres diesjährigen Radabenteuers, der 1000 du Sud 2020, bevor wir uns diesen provencalischen Traum aus den Herzen reißen müssen, die Taue kappen, ein Stück von uns hier lassen, bittersüß der Trennungsschmerz.

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Südfrankreich, die Seealpen, eine strenge und zugleich zärtliche Geliebte; karg, trocken und heiß bei Tag, stürmisch, kalt und feucht bei Nacht und in der Höhe. Der flüchtige, in windgeschützten Senken kräftige Kiefernharzgeruch, Hilferufe der Bäume, die ihre platzenden Borken zu schließen suchen. In meiner Nase Nektar der Erinnerung an manchen heißen Sommer vor Jahrzehnten. Und inmitten karger, sonnenverbrannter Landschaft, frisch plätschernde Brunnen in beinahe jedem Ort, verschwenderisch zu Kaskaden geformt oder in großen Trögen gesammelt, in denen in vergangener Zeit die Bewohner ihre Wäsche wuschen.
Das Gegensatzpaar des Südens: Trockenheit und Wasser, scharf voneinander getrennt.
Der Start ist unspektakulär. Er findet auf dem Campingplatz in Cotignac statt.

Eine schmale gewundene Serpentine aus dem Ort heraus führt dorthin. Mit jeder Kehre gibt sie ein weiteres Panorama des Ortes frei, die tonfarben gedeckten Dächer, die eigentümliche Tuffsteinfelswand, die den Ort überragt, von Höhlen durchzogen, in früheren Zeiten zum Teil bewohnt, ein Wasserfall, die Cassolle. Der kleine Strom durchzieht den Ort.
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Am Vorabend fahren einige von uns noch einmal in den Ort, um essen zu gehen. Eine Liveband spielt vor einem Cafe, wir sitzen unter freiem Himmel, Ricard, ein zur Realität geronnenes Klischee.
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Morgen werden wir auf gut 1000 Kilometern in die französischen Seealpen eintauchen. 21.000 Höhenmeter überwinden und dabei 21 als Kontrollstellen ausgewiesene Pässe überqueren.
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Karte: Sofie Matter
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Grafik: Sofie Matter


Abseits der Zahlen werden wir jedoch viel mehr erleben; innerhalb weniger Tage wird eine Flut von Eindrücken auf uns einstürmen, die uns ein mehrwöchiger Urlaub der konventionellen Art nicht bieten könnte. Für mich ein lang gehegter Traum. Vor sechs Jahren las ich einen Bericht von der 2013er Ausgabe und war sofort gefesselt. Da wußte ich noch nichts vom Langstreckenradfahren. Mein erster 200er kam dann erst ein Jahr danach.
Bei der Ausgabe der Rahmenschilder lerne ich Sofie Matter kennen. Eine kleine Frau mit flachsblondem langem Haar, die sich im Hintergrund hält. Paris-Brest-Paris auf einem Blumen geschmückten Hollandrad? Natürlich bin ich ziemlich aufgeregt.
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So bescheiden kann ein großes Radabenteuer beginnen.
 
Die erste Etappe bis zur ersten Kontrolle vergeht wie im Fluge. An einem der ersten Anstiege trenne ich mich vom Heiner, der den wagemutigen Plan umsetzen will, den Mille mit dem Liegerad zu meistern und gebe dem 30 Jahre alten Koga Miyata Granwinner die Sporen. Schnell erwische ich eine flotte Dreiergruppe, Raimund, Adriana und Gerhard, den ich vom Karl kenne. Nach ein paar sanften Schwüngen und Ortsdurchfahrten klettern wir noch vom Start berauscht an einer Flanke der Atem beraubenden Verdonschlucht bergan, von oben wird der Blick auf den fahlblauen, gewaltigen Lac de Sainte-Croix frei.
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Bild: CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96210
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Das erste Kontrollfoto an den Tunnels du Fayet.

Nach rauschhafter Abfahrt auf schmalem aber glattem Asphaltband, auf dem außer uns weitere Rennradler unterwegs sind wenig später der zweite Berg: Châteauvieux bei km 86, unspektakulär, im Wald gelegen. Bei km 128 der Col de Félines.
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Auf halbem Weg durchqueren wir Entrevaux, an dessen schroffem Hang ein Fort klebt. Was auf den ersten Blick wie eine Reihe Dominosteine aussieht; in Wirklichkeit zerteilen zahllose Wehrtore, den gewundenen Aufgang. Die Anlage wurde von König Ludwig XIV im späten 17. Jahrhundert beauftragt, der Ort selbst stammt aus dem Mittelalter.
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Im Tal angekommen tanke ich in Le Fugeret noch einmal Wasser, bevor es auf den Colle Saint-Michel geht und entdecke dabei diese malerische Gasse:
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Die nachmittägliche Hitze weicht milder abendlicher Luft, im letzten Licht des Tages geht es auf die nächsten zwei Pässe, bevor die Nacht mich verschluckt. alle nicht besonders hoch, jedoch dem gezackten Streckenprofil folgend Schlag auf Schlag.
Auf einer dieser Abfahrten, fahre ich auf Michael auf, der zwei Deutsche und einen Franzosen im Schlepptau hat. Die bremsen viel auf dem etwas gemischten Untergrund, so dass wir uns schnell auf einer Art Zweierverfolgungsjagd befinden. Keiner von uns will den Rausch unterbrechen, so sind unsere Flaschen, unten angekommen, leer.
In einem Wohngebiet hören wir Partylärm und reichen wenig später unsere Flaschen über den mannshohen Zaun. Zum Dank bekommt die Spenderin ein zerdrücktes Snickers.
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Am Fuß eines dieser Berge wird aus dem allzu häufigen kehligen Gebell zumeist frei laufender Hofhunde Ernst. Ein zottiges Exemplar der 30kg-Klasse hat es auf Michael abgesehen, der mächtig durchstartet, aber nicht entkommen kann. Zum Glück findet der Hund die Verfolgung kurzweilig genug und sieht von einer Beißattake ab. Während ich an ihm vorbei fahre, blende ich ihn mit meiner Kopflampe und nutze schleunigst sein Innehalten.
Die Besteigung des Belvédère du Mont Colombis bei km 323 kündigt sich bereits im Aufgang in der kleinen Gemeinde Theus als steil und rutschig an. Bereits an den paar Kehren im Ort muss ich heftig in die Pedale quetschen; so lasse mich in den Ort zurück rollen und beschließe, dass es jetzt Zeit für ein paar Stunden Schlaf ist. Unterhalb des Marktplatzes entdecke ich am Rand einer feldsteinernen Umfriedung einen grobhölzernen Tisch mit an den Längsseiten angeschraubten Bänken, auf diesem breite ich meine Isomatte aus und lege mich in die etwas feuchte Kühle. Einen Schlafsack habe ich nicht dabei und meine Knisterfolie will ich mir noch aufsparen.
Nach zweieinhalb Stunden wache ich reichlich tief gefrohren auf und starte in der fahlen Dämmerung des zweiten Tages meinen Aufstieg.
Bereits auf einer sandigen Piste oberhalb des Ortes spüre ich das typische elektrische Kribbeln in der linken Achillessehne, das mir einen Faserriss ankündigt und klicke schleinigst aus, bevor es soweit ist. Ab jetzt schiebe ich die steilsten Passagen, Erfahrung macht klug!
Unterwegs überholen mich einige Mitfahrer auf ihren spillerigen Carbongefährten und grüßen; Gesellschaft tut gut!
Um sieben habe ich den Gipfel erreicht, es stütmt und ist bitter kalt. Kurz lasse ich das gewaltige breite Panorama auf mich wirken, das sich tief unter mir ausbreitet, bevor ich mich in den Bremsen hängend und rutschend bergab in freundlichere Gefielde begebe.
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Nach ein paar Kehren verlasse ich Serpentine und biege in eine rund vier Kilometer lange, grob abgeschotterte Passage ein, die uns ja von Sofie bereits angekündigt wurde, bergab und bergan holpert es teils rutschend und teils rollend diesen Pfad entlang, Reifenspuren schmaler Räder künden zusätzlich von der Richtigkeit des Kurses; außer uns wagt sich kein Rennradler auf solchen Untergrund! Zikaden zirpen, kein Mensch ist zu sehen, hin und wieder muss das Vorderrad angelupft werden, um eine der zahlreichen hölzernen oder steinernen schräg über den Pfad verlaufenden Abflussrinnen zu überspringen, Asphalt lockt.
Mein 30 Jahre altes Roß schlägt sich tapfer!
 

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Bei km 344 erreichen wir auf gewohnt winzigen Sträßchen weitab vom Verkehr den Col du Tourrond.
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Dann öffnet sich das Visier; unvermittelt finden wir uns auf einem breit ausgebauten Alpenhighway wieder, nach den engen Gassen und Pfaden komme ich mir hier schutzlos und verlassen vor. Der Aufstieg zum Col du Festre bei km 388, Etappe der diesjährigen Tour de France, beginnt.
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Auf der Paßhöhe treffe ich eine Gruppe Franzosen, die als Team fahren und auch Björn auf seinem futuristischen Carbonfighter, fährt fröhlich grüßend von hinten auf. Die Franzosen verschwinden in einer Auberge, die sie sehr loben, ich halte das lange Warten nicht gut aus und begebe mich nach rauschender Abfahrt in einen Laden, der mich durch mieses Essen und überhöhte Preise meine Ungeduld bereuen läßt.

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Gerhard stoppt kurz, von meinem Rad angelockt, er ist ein Getriebener und fährt gleich weiter.
Dann geht es wieder zurück in die Abgeschiedenheit. den Col du Parquetout bei km 428
erreiche ich am Nachmittag. Hier schließt auch wieder der französische Vierer auf, die Jungs haben mächtig viel Dampf in den Beinen und sind gut gelaunt. Ein paar erste Plaudereien entspinnen sich.
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Den Col de la Mort bei km 464 erreiche ich mit einem mächtigen Zwischenspurt im letzten Tageslicht; unterwegs wurde der Ort von einigen Mitfahrern als letzte Quelle zum Essen Fassen vor der Nacht identifiziert. Das weckt ungeahnte Kräfte.
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Der französische Vierer sitzt bereits zu Tisch, Björn gesellt sich kurz zu uns, verschwindet schnell wieder, er will noch Strecke machen und sich dann irgendwo einen Platz für sein Leichtbauzelt suchen.
Während die Dunkelheit hereinbricht, bestelle ich mir einen großen Teller Nudeln und verstaue ein paar eingeschweißte Törtchen von der Theke in meinen Rückentaschen als Zehrung für die Nacht.
Doch es kommt anders. Neben mir sitzt ein alter Mann und spricht mich auf mein Trikot an. Ich trage das PBP-Trikot von 2015, so wie ich mein 1000 du Sud Trikot nächstes Jahr bei einer passenden Gelegenheit tragen werde, ein Spleen.
Er erzählt und wird dabei tatkräftig von einigen Franzosen des Vierers unterstützt, die zunächst zaghaft einige Deutschkenntnissse an mir ausprobieren -ich bin baff und gerührt- , dass er 1975 Paris-Brest-Paris gefahren sei, damals starteten 666 Fahrer (Bei der 2019er Ausgabe 6500!).
Einer der Franzosen erzählt mir, dass sie von hier ein Hotel etwa 10km von der Strecke ansteuern werden, um dort die Nacht zu verbringen. Ich bitte um die Telefonnummer, reserviere und nehme Lift und Gesellschaft dankbar an. Was in der folgenden Stunde geschiet, werde ich nie vergessen: Die ortskundige Mannschaft brettert in Ideallinie mit bis zu 80 Sachen im Finstern den Pass bergab ins Tal. Scharf zischt der feine Kies unter den Rädern, mit dem geflickte Stellen abgestreut worden sind. Jetzt wird mir schlagartig klar, was die von mir als etwas zu beiläufig wahrgenommene Bemerkung von Gravelpassagen zu bedeuten hatte. Und nicht nur das, es zieht mich mit, ich bleibe lange vorn, kurz vor dem Tal fangen sie mich ab, im Schräglage, mit weit aufgerissenen Augen den Asphalt nach einerm kurzen kieslosen Stück zum Bremsen absuchend, auf die nächste Kurve zu.
In der Nacht träume ich noch einmal schlecht davon, wie ich in die Leitplanke rutsche. Glück gehabt! Nach sieben Stunden gutem Nachtschlaf, frisch geduscht und gesalbt, werden die Karten neu gemischt. Um fünf in der Frühe bricht er auf, der gemischte Fünfer, in ihrer Mitte l'allemand, wie sie mich ab jetzt nennen, scherzhaft fliegen deutsche und französische Sprachbrocken verkehrt herum hin und her. Dass l'allemand wieder aufgetaucht sei, höre ich einen der Teilnehmer noch zwei Tage später beim Aufstieg auf den Sommet de Lure bei km 892 in sein Smartphone sprechen. Er gefällt mir ganz gut, mein neuer Name.
Zunächst geht es im Windschatten etwa eine halbe Stunde geradeaus, bis wir rechts abbiegen und in einem Dorf scharf bergauf fahren. Als Ortsunkundiger lege ich lieber vor, bis wir wieder vermeindlich auf Kurs sind. Nur endet die Steigung nicht. Sie mündet in die ellenlange Auffahrt zum Chamroussee. Auch die Franzosen reißt es auseinander. Ihre Lichter sehe ich ab und an in einer der Kehren unter mir. Nach einer gefühlten Ewigkeit schließt der erste zu mir auf. Wir fahren schweigend. Zu dieser frühen Stunde ist es menschenleer. So fahren wir die Kehren diagonal an und sparen so ein paar Meter. Breiter Schwung im Sattel, Kehre nehmen im Wiegetritt, breiter Schwung im Sattel, so verstreicht die Zeit. Dann dämmert es und tagt. Die Umrisse des hohen, taufeuchten Kiefernwaldes werden zu Grün.
Wir fahren in den Winterskiort Chamroussee ein. Der Bäcker hat noch zu und lässt sich auch nicht erweichen. Es ist nass und sehr kalt. Nach dem Kontrollfoto starte ich gut eingepackt in die Abfahrt, während sich die Franzosen per Telefon verabreden.
 
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Die Strecke verläßt wenig später die gut ausgebaute Paßstraße und führt mich mitten durch den Wald. Einer aus der Gruppe wartet am Abzweig und weist den Weg.
Vor einem Ort bremse ich doch mal. Die Aussicht ist einfach zu schön.
Der 15. als Kontrolle ausgewiesene Berg dieser Tour ist der Col du Coq bei km 546. Wir befinden uns jetzt am nördlichsten Punkt auf der Höhe von Grenoble. Am Col du Coq befindet sich der Wendepunkt der Tour. Jetzt wenden wir gedanklich das Rad und fahren wieder „heim“ in den Süden; irgendwie monströs, oder?

Unterwegs genieße ich Ausblicke wie diese:
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Am Gipfel harrt Luc Coppin, Präsident des Audax aus Paris, aus: Er stempelt mir die Karte und kreuzt meinen Namen in seiner Liste an. Er hat einen Tisch aufgebaut, voll mit Lebensmitteln, Kochgeschirr, Wasserkanister. Ich nehme einen Apfel und ein Stück Kuchen, verstaue eine Banane in meiner Rückentasche und verabschiede mich in die Abfahrt.
Überhaupt, die Abfahrten, eine nach der anderen, alle paar Stunden, wie das Amen in der Kirche! Nie zuvor bin ich so viele Abfahrten hintereinander mit Maximalgeschwindigkeit runtergebrettert, geduckt, im Sattel stehend, in der Bremse hängend die mit zweifelhaftem Belag, sinnlos-rauschhaft rasend die, die es ermöglichten; und ein paar weitere, die mich gottlob nicht dafür bestraften.
Der erste Berg auf der Südrunde ist der Col de Porte bei km 564. Unterwegs in Abständen Zeugen einer ganz anderen Art Unternehmung.
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Ein paar Kilometer weiter in einer Abfahrt nach St. Égrève endet meine Fahrt plötzlich an einem Bauzaun. Den kann ich noch überwinden, indem ich das Gitter verdrehe und durch die Lücke schlüpfe. An den Baumaschinen wäre ich auch vorbei gekommen, werde aber vom Gebrüll eines Bauarbeiters aufgehalten. Mehrmals setze ich an, um nach einer Umfahrung zu fragen. Das steigert sein Gebrüll, Spucke fliegt aus seinem Mund, auf die Durchfahrt verzichte ich, ob er dann völlig außer Kontrolle gerät, kann ich nicht einschätzen.
Rechts eine Schlucht, links der bewaldete Hang. Den Berg wieder rauf? Ein Paar, das dort offensichtlich wohnt, kommt mir aus einer steilen Einfahrt entgegen. Davor ein Schild mit Sinn für Komisches: „Dieser Weg endet wirklich nach 800 Metern!“ Dreisprachig.
Sie weisen mir einen steinigen Pfad durch den Wald, der mich rutschend und schiebend oberhalb um die Baustelle herum führt. Unterwegs plaudern wir ein bisschen. Unten angelangt bietet mir die Frau selbst gebackene Cookies aus einer Tüte an. Ich bitte um die Tüte, damit ich die Gabe schmierfrei in meiner Rückentasche verstauen kann, worauf sie mir Tüte nebst komplettem Inhalt aushändigt. Mit der Welt versöhnt setze ich meinen Weg fort. Gute Wünsche begleiten mich.
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Auf dem Weg zum Col de Romeyère bei km 626 müssen wir durch diese Röhre. Sie ist unbeleuchtet, grob behauen und etwa autobreit. Das geht nur mit Licht und Kopflampe und ist ganz schön unheimlich. Kühle, feuchter Staub schneidet den gleißenden spätsommerlichen Tag ab, auf der anderen Seite blendet er wieder auf.
Während ich meine Kopflampe verstaue, entdecke ich einen Mitfahrer sich den Berg herauf arbeiten. Er müht sich ab, mein Hinterrad nimmt er nach anfänglichem Zögern an. Und ich habe Lust auf Gesellschaft. Eines dieser für Brevets so typischen Zweckbündnisse. Geschlossen und aufgekündigt. Dieses hält aber an. Wir fahren zusammen durch die Nacht, teilen eine Schlafgelegenheit und anderntags fährt er weiter, während ich in einer Boulangerie verschwinde, in einem Dorfladen Batterien kaufe, in einem klaren und herrlich frischen Gebirgsbach ein Bad nehme. War das schön!
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Lang ist die Liste der Unvorhersehbarkeiten, die eine solche Ausfahrt zu einem Kampf und einer Qual werden lassen können und niemand ist davor gefeit!
Meine Gedanken schweifen ab: Die zweite Nacht bei den Borders of Belgium 2016, das tröstende Hinterrad eines niederländischen Randonneurs, Stunden am Anschlag, die Gewissheit: verliere ich dieses rote Licht, verliere ich diese Tour. Dankbarkeit.

Einstweilen gurken wir durch die Nacht. In einer Kleinstadt fahre ich an einem Biosupermarkt vorbei, der Eingang 15 Quadratmeter überdacht, gefliest. Traumschlafplatz für Randonneure. Michel biegt um die Ecke, ich winke ihm, wir breiten unsere Matten aus, drei Stunden Schlaf. Um fünf packen wir zusammen und rollen durch die stille, gelblich erleuchtete Stadt, raus in die dunkle Nacht.

Mein vierter Tag bricht an.

Die Chronologie einiger Ereignisse gerät mir in der Erinnerung durcheinander. Zum Beispiel die Episode mit dem Ufo-Pizzawagen: Mitten in der Nach gegen 22:30 reite ich in einen kleinen Ort ein. Am Straßenrand steht ein hell erleuchteter Pizzawagen. Davor steht Michael und kaut an einem Flammkuchen. Er bietet mir etwas davon an, weil er die große Portion allein nicht schafft. Während wir kauen, rollt ein französischer Kollege heran, will aber dann doch nichts und fährt sofort weiter. Wir schütteln den Kopf. Dann löst sich die Zusammenkunft. Unwirklich. Fühlt sich an wie ein flüchtiger Gedanke, der durch meinen Kopf gezogen ist und nicht wie ein Ereignis, das seinen Weg durch meinen Magen genommen hat.

In manchen Nächten verlässt man auf solchen Fahrten das Raum-Zeit-Kontinuum. Seltsam heiter.

Dieser vierte Tag ist heiß. Zwei Dinge haben sich mir im wesentlichen eingeprägt, das schmuddeligste Cafe der Welt am Fuß des Col de Serre Larobe bei km 811 und der 25km lange Anstieg zum Sommet de Lure bei km 892, dem letzten großen Brocken unserer Tour.
In breiten Schwüngen geht es den Col de Tourettes hinauf. Auf der anderen Seite wieder herunter.
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Bitte nicht fluchen: Der Berg, der es verdient hätte, eine Kontrolle zu sein.
Unten angekommen biege ich links in eine breite abschüssige Straße ein und gebe richtig Gas. Doch das Vergnügen ist kurz. Der Track zweigt rechts auf eine kleine Straße ab und verschwindet dann hinter einer zugewilderten Brücke im Gebüsch. In einer Senke davor auf einem feuchten Stück Abdrücke von zwei Rennradreifen. Die enden hier. Meine Vorfahrer haben sich ganz offensichtlich gegen diese Variante entschieden! Track ist Track, so gebe ich mir innerlich einen Schubs und schiebe das Rad über die Brücke durch das hohe feuchte Gras. Dahinter mündet der Weg in einem steinigen Wanderpfad, der mich in praller Sonne steil bergan führt. Ich gewinne an Höhe und überlege, was uns Sofie damit vermitteln will. Nach einer geschätzten halben Stunde quert eine gut asphaltierte Straße den Pfad und führt mich kurze Zeit später auf den Col de Serre Larobe bei km 811.
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O.k., es gibt natürlich Tracks, die hastig am Bildschirm zusammen geklickt worden sind. Die haben keinen tieferen Sinn. Doch dieser hier ist das genaue Gegenteil; ich bin mir sicher, dass die Strecke mit dem Rad gescoutet wurde, detailreich buntes Städtetreiben und Abgeschiedenheit kombiniert, an grandiosen Naturdenkmälern und historischen Stätten entlang führt, ein spannendes, raues Profil, das jederzeit die ganze Aufmerksamkeit des Befahrers einfordert. Und diese kleine Episode ist kein Zufall. Oben angekommen ziehe ich für mich diesen Schluss:
Das Fahrrad ist das universellste Verkehrmittel. Innerhalb weniger Tage kann man damit unglaubliche Strecken zurück legen. Bei Merselo-Verona 2018 haben wir in vier Tagen fünf Länder durchquert! Und auch da, wo nur noch laufen oder sogar klettern angesagt ist, lädt man sich sein leichtgewichtiges Verkehrsmittel auf die Schulter, läuft, klettert, erlangt wieder festen Grund und fährt, fährt, fährt immer weiter! Ein Plädoyer für die uneingeschränkte Moblität auf zwei Rädern.
O.k., ein bisschen drüber, aber ein bisschen drüber ist doch die ganze Tour.

Zufrieden mit mir und dem Sinn meines Tuns steige ich auf und fahre weiter.
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In Sisteron esse ich noch mal warm. Aber die Stadt ist voll von Touristen, voll von Verkehr, laut, hektisch. Schnell verlasse ich den Ort, zurück in die Stille. Später wird mir Heiner erzählen, wie schön die Altstadt war. Sei es drum, das Rad muss rollen!

Am Fuß des Sommet de Lure raste ich im Örtchen Les Escoffiers. Hinter dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs entdecke ich einen Wasseranschluss und fülle meine Flaschen. Das Quellwasser ist viel, viel besser, oft von zarter Süße, mineralisch, kühl, frisch. Doch über einen Brunnen verfügt dieser Ort nicht, und so muss es diesmal das gechlorte Leitungswasser sein.
Am Ortseingang, an einer Nussplantage vorbei das erste dieser grünen Schilder, auf denen überall Länge und Steigung von Anstiegen im Abstand eines Kilometers angeschlagen sind: Sommet de Lure, 25km! Neeh, oder? In den nächsten Stunden fahre ich jedes dieser Schilder ab und memorierez dabei monoton und mantramäßig: Somet de Lure, 23km, 8%, Somet de Lure, 22km, 6%, Somet de Lure 16km, 8%. Lange geht des durch den Wald, durch die Wipfel sehe ich die Welt unter mir immer kleiner werden, dann öffnet sich die Szene, der baumlose letzte Abschnitt beginnt. Hinter mir Kettenrasseln, tatsächlich der erste aus dem mir wohl bekannten französischen Team. Er zückt sein Telefon und meldet den anderen hinter ihn, dass er den Deutschen gesehen habe! Welch freudige Überraschung. Da sind sie wieder. Im Nu ist mein etwas teigiges Hirn wieder frisch, ich lege an Tempo zu, wir fahren zusammen.
Im letzten Tageslicht kommen wir oben an, es ist bitter kalt und es stürmt aber die Szenerie ist Atem beraubend!
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In der folgenden rauschenden Abfahrt verliere ich meine Sonnenbrille. Der einzige Schwund während dieser Tour.

Unten angekommen sitzen um 21:00 Uhr vor einer geöffneten Pizzaria im Örtchen Saint-Étienne-des-Orgues die üblichen Verdächtigen und arbeiten sich bereits durch ihre geöffneten Schachteln. Ich schließe mich an. Die Pizza schmeckt mir nicht, aber sie macht satt.

Während sich das französische Team in ein Hotel am Ort aufmacht, beschließe ich, Wasser zu tanken und sicherheitshalber die letzten 90km anzuknabbern, denn zwei kleine offene Stellen an meinem Gesäß, die mich bereits seit 100km beschäftigen, spielen sich jetzt noch einmal richtig in den Vordergrund. Im Verlauf der Nacht werde ich deswegen manchmal alle zwei, drei Kilometer stoppen müssen, und sicher ist sicher.

Ein bohrender Schmerz, den es mir weder gelingt zu blockieren noch durch mich hindurch zu leiten! Schuld ist meine neue Hose, die an einer Stelle nicht dicht genug anliegt.

Mein erster 1000er auf dem Rennrad. Erst in diesem Frühjahr bin ich vom Liegerad auf den Renner umgestiegen, mein erster 200er, 300er, 400er, 600er, 1000er aufrecht, ein Jahr der Premieren. Wie noch einmal ganz von vorn anzufangen, herrlich! Die kleine Unbill scheint mir da gering inmitten all des Guten.

Gegen halb zwölf in der Nacht fahre ich durch Valensole, knapp 50km vor dem Ziel, greifbar. Hinter einer Kirche erspähe ich eine Bank, im Freien, aber überdacht, von der Straße aus nicht einsehbar. Niemand, der nicht wach rüttelt, weil er mir unbedingt helfen will. Ich lege mich in die einstellige feuchte Kühle und schlafe drei Stunden. Wir Randonnere haben ein Radar für gute Schlafgelegenheiten!

Steif und durchgefroren erwache ich und setze ich meinen Weg fort. Erstmal eine aushaltbare Sitzposition finden. Durch Herumprobieren entdecke ich, dass es sich auf der linken Pobacke gut aushalten läßt. Fahrstil ungewöhnlich aber fast schmerzfrei!
Ich arbeite mich durch das gezackte Profil, paar Kehren rauf, paar Kehren runter, Lavendelfelder tauchen fahl auf im Kegel der Lampe. Jetzt duften sie nicht, sondern verstoffwechseln ihre Glukose und das riecht muffig.

Ein herrlicher Morgen zieht auf und taucht die Umgebung in dieses besondere glänzende Licht, das wir so sehr lieben. „Den Rest könnte ich ja fast schon laufen!“, höre ich mich innerlich sagen. Euphorie kommt auf. Ich komme durch die Ortschaft Allemagne. Noch nicht, noch ist es nicht vorbei, die letzten zauberhaften Kilometer genieße ich in vollen Zügen. Anspannung fällt von mir ab, an Obstbäumen vorbei, heftig fange ich an zu schluchzen. Das Herz tut mir weh. Ich weine und schluchze in Wellen bis ins Ziel. Auf dem Campingplatz lasse ich es nochmal laufen. Dann bin ich ruhig und zufrieden.
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Epilog:
Mit dem Heiner sitze ich im Auto, während wir an Carces vorbei fahren. Er hatte einen Unfall mit einer Katze und ist trotz Handteller großer Abschürfungen dabei geblieben.
Unvermittelt zwei Köpfe, ein Gedanke: beim 1000 du Sud nicht dabei gewesen zu sein - undenkbar!
Auf der Heimfahrt tauschen wir noch eine ganze Weile Erlebnisse und Eindrücke aus. Auch wenn wir nicht zusammen gefahren sind, war es eine ganz tolle Begleitung und auch auf eine Art gemeinsame Erfahrung.

Der Sofie Matter kann man nicht genug danken. Sie hält seit zehn Jahren die Fahne dieses Fluchtpunkts aus dem Alltag hoch. Und sie bringt in jedem Jahr eine neue Strecke raus; das ist wirklich einzigartig!

Ich denke aber auch sehr gern an meine unterhaltsamen und kameradschaftlichen Mitfahrer, die netten Bekanntschaften am Straßenrand, die grandiosen Naturschauspiele.
Nicht so einfach, danach in den Alltag zurück zu kehren. Die daheim Gebliebenen hockten in ihren Zeitkapseln. Zwischen denen laufe ich erst einmal eine Weile etwas herrenlos herum.

Na, gut, einen hab‘ ich noch, einen letzten: Sofies Zelt
Nach der Ankunft auf dem Campingplatz in Cotignac geht es mir ausgezeichnet, geduscht und etwas sediert lege ich mich auf meine Matte und schlafe ein paar Stunden. Gegen Mittag wache ich auf, eine Gruppe von Finishern kommt zusammen, Glückwünsche, Geschichten. Ich müsste eigendlich mein Zelt aufbauen. Der Tag verrinnt. Am Abend trudelt der Heiner ein. Er macht sich landfein und wir essen im Ort zu Abend. Bei der Rückkunft dämmert es bereits. Mein Zelt. Jetzt aber schon dunkel. Das Proviantzelt der Provence Randonneurs steht noch da ud ist jetzt leer. Geschwind schlupfe ich hinein. Drinnen liegen ein paar trockne Eichenblätter, eine Startkarte und eine Finisherkachel. Ich ziehe ein und schlafe traumlos. Früh am nächsten Morgen stehle ich mich davon.

Prochaine édition : 6 - 11 septembre 2021, see you!
 
@fafnir schön Geschrieben, macht Lust drauf mal dabei zu sein. Batterien und dann sehe ich einen SON? Wie das?
 
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