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SZ - Die Evolutiongeschichte des Fahrrades

Kajaking-Mark

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Ein schöner Artikel über die Evolutionsgeschichte des Fahrrads steht heute in der süddeutschen Zeitung:

Schön und von makelloser Funktionalität: Das Fahrrad ist eine überaus geglückte Erfindung. Einige Überlegungen zur Evolutionsgeschichte des Fahrrads.

Die Evolutionsgeschichte kennt immer wieder prachtvoll geglückte Momente. Plötzlich betritt da ein Wesen die Bühne des Lebens, das in sich so durchdacht ist wie eine Fuge von Bach, makellos in seiner Funktionalität und Schönheit.
Das Farnkraut ist so ein Wesen. Das Fahrrad auch. Das heißt, vom Farnkraut weiß ich es eigentlich gar nicht, ich habe nur mal auf einem Schild im Botanischen Garten gelesen, dass es seit Hunderten Millionen Jahren gleich aussieht. Vom Fahrrad aber schon: Es schmiegt sich schlank und edel in die Schöpfung, ohne ihr zu schaden.
Alles an ihm ist sinnvoll. Zugleich ist es von hoher ästhetischer Intelligenz, ja es ist weitaus schöner als das Farnkraut, das doch seit Jahrmillionen eher unauffällig am Straßenrand der Schöpfung vor sich hinsprießt. Bis auf den singenden Klang seiner Reifen und das geschmeidige Surren der Kette ist das Rad ganz und gar still. Es hinterlässt auch keine Spuren außer jenen im Gedächtnis seines Wirtstiers, mit dem es in enger Symbiose lebt: Es schenkt ihm Bewegung, Landschaftsrausch und anderweitige Glücksgefühle im Austausch mit Muskelkraft.
Was das Verhältnis von Energie und Leistung angeht, so wurde von der Natur nie zuvor und nie danach Ähnliches entwickelt. Füttert man das Wirtstier mit dem Energiewert von einem Pfund Fett, so kann es mit seinem Fahrrad weiterfahren als alle anderen Geschöpfe: gut dreihundert Kilometer, also deutlich mehr als die beiden Nächstplatzierten, der Lachs und das Pferd.
Leider hat das Fahrrad aber einen Feind, das Auto nebst seinem Wirtstier, dem ADAC-Mitglied, eine in hohem Maße fehlerhafte Kreatur der Schöpfung (das Auto, nicht das ADAC-Mitglied!), ja die erste, die der ganzen Schöpfung den Garaus machen könnte. Das Verhältnis von Energie und Leistung ist beim Auto im Vergleich zum Fahrrad als katastrophal zu bewerten: Füttert man das Wirtstier mit dem Energiewert von einem Pfund Fett, so bewegt sich das Auto keinen Meter von der Stelle, das Wirtstier aber wird dicker. Füttert man hingegen das Auto mit dem Energiewert von einem Pfund Fett, so fährt es zwar ein paar Kilometer weit, macht dabei aber einen Haufen Dreck.
Das Auto sieht in Farn und Fahrrad Hindernisse, die es möglichst final zu überfahren gilt (survival of the fattest) und man kann das Wirtstier des Autos daran erkennen, dass es im Wirtshaus in einer Pfütze aus Hass sitzt und auf das Fahrrad schimpft; das nennt man Autoaggression. Das Fahrrad aber schert sich nicht darum, es ist ja draußen unterwegs, schlank wie die Sehne einer Gazelle, unter Gottes freiem Himmel, der sich bereitwillig über ihm aufspannt.
Nun sind inzwischen beängstigend viele Forscher der Meinung, dass das Auto-Immunsystem der Erde längst schwer ins Trudeln gekommen ist. Bisher hat die Evolution in ähnlichen Krisenzeiten immer angefangen, an ihren eigenen Kreaturen herumzudoktern und neue, überlebensfähigere Spielarten auszuprobieren. So bastelte sie aus den kleinen Urfarnen irgendwann riesig barocke Abarten, nannte sie Baumfarne und pflanzte sie in den Regenwald. Ob das aus einer Krisensituation oder aus einer Champagnerlaune heraus geschah, weiß ich nicht, es ist aber auch egal.
Auch das Fahhrad kennt Hybride.
So etwas wie den Baumfarn nennt man jedenfalls Hybridform. Es gibt das Hybrid-Phänomen inzwischen auch bei Autos. Hybridautos sehen aus wie andere Autos auch, der Unterschied ist nur, dass gemeine ADAC-Mitglieder sie sich nicht mehr leisten können. Das Wirtstier heißt dann Brad Pitt oder George Clooney, was seinerseits spektakuläre Hybridformen des gemeinen ADAC-Mitglieds sind.
n Sachen Fahrrad war größeren Bevölkerungskreisen bisher nur eine Hybridform bekannt, eine bedauerliche Spezies, bei der sich Mutter Natur in den achtziger Jahren in eine ästhetische Sackgasse verrannt hat. Das Ansinnen war verständlich, sie wollte dem Fahrrad den kargen Lebensraum der Berge erschließen, um es auf diese Weise vor den Autos zu retten.
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Leider erdachte sie dazu bullig gedrungene Rahmen und fette Reifen mit aknegrobem Profil. Das Ergebnis heißt Mountainbike, ist schwer wie ein Jeep und erinnert trotz seines amerikanischen Namens an russische Gewichtsheberinnen, die aussehen wie ihr eigener vorbestrafter Cousin. Auch vom Charakter her ähnelt die Spezies eher diesem Cousin als dem mitteleuropäisch schlanken Fahrrad, brettert es doch rücksichtslos und laut scheppernd über Farne und Fauna hinweg. Dann noch lieber Auto fahren, da bleibt man wenigstens auf der Straße.
Mountainbikes? Eine Irrfahrt
Wie schwer aber die aktuelle evolutionäre Krise sein muss, kann man ansatzweise ermessen, wenn man sich die Hybridformen des Fahrrads anschaut. Die Evolution scheint in jüngster Zeit auf Teufel komm raus am Fahrrad herumzubasteln, anders kann man sich all diese Abarten von Klapp-, Koffer-, Doppel- und Schlittschuhrädern kaum erklären.
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Das Schlittschuhmodell Capo, von dem weltweit nur ein Exemplar existiert, soll nun, nach der Attacke des Mountainbikes auf die Bergwelt, anscheinend auch noch den so lebensfeindlichen wie ökologisch höchstfragilen Polarkreis erschließen. Dabei macht es aber mit seinen angespitzten Schraubenspikes einen Höllenlärm. Und optisch erinnert es auch nicht an die Eleganz eines Schlittschuhläufers, sondern an den traurigen Anblick eines Minenopfers.
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Viel intelligenter ist da das silberne Sablière-Rad der Firma Mavic. Schöner geht kaum: ein Aluminiumrahmen, dessen Sattelrohr geschmeidig um das Hinterrad herumfließt, unlackiert, wie Gott es schuf und schmal wie ein Geschwindigkeitsvektor.
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Ergonomisch noch eleganter ist das Modell Pedersen, bei dem der Sattel integraler Bestandteil des Rahmens ist: Erst wenn man draufsitzt, gewinnt das Rad seine Stabilität durch die Zugbelastung der filigranen Rohre.
Erfunden wurde das Prinzip schon 1890, der Däne Mikael Pedersen störte sich an der Härte gewöhnlicher Sättel und konstruierte den Rahmen um seinen Hängemattensattel herum. Anders als herkömmliche Räder, bei denen man sich nach vorne neigen und die Handgelenke belasten muss, erlaubt das Pedersenrad eine entspannte, aufrechte Fahrweise.
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Monark Long John wiederum ist das einzige zweirädrige Lastenfahrrad, das mit Fahrer rund 150 Kilo transportieren kann. Infolge des niedrigen Schwerpunktes bleibt es selbst bei voller Belastung ganz einfach beherrschbar.
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Wenn Philosophen Rennrad fahren ...

Mit der edlen Eleganz des eigentlichen Fahrrads haben die meisten dieser Hybridformen freilich nichts zu tun. "Denn erst wenn das Fahrrad weder Transporthilfe noch Verkehrsmittel ist, erst wenn es ganz bei sich sein kann, tritt es in einer Reinheit in Erscheinung, die auch nicht durch den Schweiß desjenigen getrübt werden kann, der sich seinen zweckfreien Imperativen überlässt. Und diese lauten: Gleiten, Klettern und mit höchster Geschwindigkeit Hinabtauchen in die Tiefe des Seins."

So klingt das, wenn Philosophen Rennrad fahren. Sie rollen nicht wie unsereins ins Tal hinab, wo die Farne wachsen, sondern tauchen hinab in die Tiefe, in der das Sein sein Zuhause hat.
Das Zitat entstammt einem Text des Wiener Philosophieprofessors und passionierten Radfahrers Paul Konrad Liessmann. Abgedruckt ist es in dem Bildband "Smart Move", das die schönsten Fahrräder aus der Sammlung Embacher vorstellt. So wie Schmetterlingssammler nach edlen, seltenen Exemplaren jagen, sammelt der Erfinder und Architekt Michael Embacher auf seinem Dachboden seit Jahren seltene, schräge, mutig gescheiterte Fahrradkonstruktionen, Prototypen nobler Kleinproduzenten oder Einzelstücke, die in der Evolutionsgeschichte des Fahrrads keine Spuren hinterließen.

:) Mark
 
AW: SZ - Die Evolutiongeschichte des Fahrrades

Danke. Schoener Artikel.
Das Sablière gefaellt mir wirklich gut. Weiss jemand mehr darueber?
 
AW: SZ - Die Evolutiongeschichte des Fahrrades

St.Etienne, Frankreich, auch erste geklebte Carbonrahmen ab 1984....
 
AW: SZ - Die Evolutiongeschichte des Fahrrades

Leider hat das Fahrrad aber einen Feind, das Auto nebst seinem Wirtstier, dem ADAC-Mitglied, eine in hohem Maße fehlerhafte Kreatur der Schöpfung

die erklärende Klammer habe ich mal bewusst weggelassen!
 
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