AW: Mont Ventoux
Hallo, hier ein Text aus dem Buch der
Equipe Heiner Dort gibt es noch viele Seiten mit vielen tIPPS über den Mont Ventoux und seine Umgebung. Auch zu finden unter
www.equipe-heiner.de. Vielelciht hilft es dir weiter.
DAS ERSTE MAL: AUFFAHRT MIT JOCHEN
Mit „Schmerz“ ist es ungenügend beschrieben. Sie brennen. Die Fußsohlen brennen. Zu viel Druck auf die Rami plantares des Nervus tibialis, sagt der Neurologe und tritt weiter schwer in die Pedale. Gut zu wissen, aber Linderung verschafft die Auskunft nicht. Und es wird weit schlimmer kommen, denn wir sind erst bei Kilometer acht. Kein bisschen Erholung ist in Sicht, die 26 Zähne auf dem Ritzel am Hinterrad sind entschieden zuwenig, selbst das Trinken wird immer schwieriger, denn wer den Lenker loslässt, um die Flasche zu greifen, läuft Gefahr, mitsamt seinem Rennrad umzufallen wie ein nasser Sack; man muss treten, treten, die Mindestgeschwindigkeit darf nicht unterschritten werden, jede Umdrehung wird zum Kraftakt, zu jedem Tritt klopft das Herz wie wild, und irgendwann bei Kilometer zwölf scheitert auch der Neurologe an der wissenschaftlichen Ortung des Schmerzes. Mittlerweile, sagt er, tue alles gleichmäßig weh – von der Fußsohle bis in die Haarspitzen, und es sind noch immer neun Kilometer bis zum Gipfel. Neun Kilometer von Bedoin hinauf zum Mont Ventoux auf einer Straße, die sie „L'impitoyable“ nennen, die Erbarmungslose.
Mit dem Rennrad auf den Ventoux, den Riesen der Provence? Wer quält sich hier hinauf außer den Profis der Tour de France? Alles Verrückte? Nun, an diesem Tag hat sich in Bedoin neben Holländern, Belgiern und Franzosen eine Gruppe Deutscher aufgemacht, um sich den Traum vom Ventoux zu erfüllen. Ein Fahrzeugbauer mit mittelständischem Betrieb, ein Vinologe, der sonst in Thailand Wein kultiviert, ein Journalist, ein Krankengymnast, ein Neurologe – alles Verrückte? Nun, ein Facharzt für Psychiatrie ist auch dabei, da kann nicht viel passieren.
Drei Straßen führen auf den Olymp des Radsports. „La Douce“ heißt die eine, „die Sanfte" beginnt in Sault und weist auf den ersten zwanzig Kilometern durchschnittlich nur drei Prozent Steigung auf. Eine freundliche Route bis hinauf zum Chalet Reynard auf 1419 Meter Höhe, ehe es auf den letzten sechs Kilometern noch einmal empfindlich steil wird, aber sechs Kilometer Quälerei sind nicht das, was einen Rennradfahrer entmutigen könnte.
„La Trompeuse“ heißt die zweite Route, „die Trügerische“. Sie schraubt sich von Malaucene 21 Kilometer in die Höhe; sieben Prozent beträgt die durchschnittliche Steigung, das ist eine ganze Menge, und trügerisch ist sie, weil die steilsten Passagen erst auf den letzten fünf Kilometern lauern. Die Sanfte und die Trügerische, zumindest eines haben sie gemeinsam: Beide lassen den Radler an manchen Stellen verschnaufen, lassen ihn Kraft und Mut schöpfen.
Die dritte Art, dem Gipfel des Radsports entgegenstrampeln, bietet nichts von alledem. Sie führt von Bedoin hinauf zum Ventoux, überwindet auf 21 Kilometern rund 1640 Höhenmeter: „die Erbarmungslose“. Selbst in den Alpen gibt es keine Passstraße, die schwieriger zu fahren wäre, keine mit einer ähnlich langen und gnadenlos-gleichmäßigen Steigung. Von Kilometer sechs bis Kilometer dreizehn beträgt die durchschnittliche Steigung über neun Prozent. Rund zwei Stunden fährt der Freizeitpedaleur bis zum Gipfel. Kein Tag zwischen März und Oktober, an dem sich nicht Dutzende Rennradler die Erbarmungslose hinaufquälen würden, um oben mit geschwollenen, aber leuchtenden Augen anzukommen – oder erschöpft aufzugeben und umzukehren.
Der Mont Ventoux ist ein fast 2000 Meter hoher Klotz, 25 Kilometer lang, 15 Kilometer breit, inmitten einer lieblichen Landschaft. Er sei hässlich, heißt es in vielen Reiseberichten, aber das ist er nicht. Er ist nur ein über die Jahrhunderte geschundener Berg, abgeholzt, abgebrannt, ausgebeutet, verstümmelt, „mont pelé“ hieß er – der geschälte Berg. Dann wieder aufgeforstet; Kiefern sehen wir heute, Eichen, Buchen, Zedern, Ahorn, Pinien, Lavendel – bis bei 1600 Metern jeder Bewuchs endet. Darüber ist der Riese kahl, eine skurrile weiße Kalk- und Geröllwüste, wie mit ewigem Schnee bedeckt, 300 Höhenmeter sind es vom letzten Baum bis zum Gipfel. Hier oben macht Ventosus, der Windige, seinem Namen alle Ehre. Die Sonne brennt, der Wind pfeift, hier haben sie den französischen Sturmrekord gemessen, 320 Kilometer pro Stunde.
Der Ventoux ist ein Mythos. Die Leidensgeschichten, die er schrieb, seine extrovertierte Lage, die Tour de France haben ihn dazu gemacht. Und das, obwohl die Erbarmungslose in den bisherigen 87 Auflagen der Frankreich-Rundfahrt nur neunmal auf dem Programm stand. Und doch wurde hier mehr Radsportgeschichte geschrieben als in Alpe d'Huez oder auf dem Galibier zusammen. Nirgendwo spielten sich mehr Dramen ab, das grausamste an einem Freitag, dem Dreizehnten, auf der dreizehnten Etappe der Tour im Jahr 1967. 1300 Meter unterhalb des Gipfels, dort, wo die Straße noch einmal mehr als zehn Prozent Steigung erreicht, wo die Kräfte verbraucht sind, wo der Wind pfeift, dort ist der Engländer Tom Simpson in glühender Hitze vom Rad gefallen. Der Weltmeister von 1965, ein Nationalheld auf der Insel, starb, er hatte Amphetamine geschluckt, er war das erste prominente Dopingopfer im Radsport. Dort, wo sein Herz aufhörte zu schlagen, steht heute ein Denkmal für Simpson, eine Kultstätte noch immer, und die Radler, die vorbeikommen, legen wie vor dreißig Jahren eine Trinkflasche, einen
Reifen, einen Handschuh hin.
Simpson, Doping – so also kann es enden. Doch wo fängt es an? Ganz unten? Viele der Hobbyradler, die in Bedoin starten, tun dies nicht allein mit einer vollen Wasserflasche. Magnesium, Mineraltabletten haben sie darin aufgelöst, das mag sinnvoll sein, aber viele nehmen auch Aspirin, Voltaren, Schmerzmittel, um sich den Anstieg zu erleichtern.
Warum das alles? Warum auf diesen Berg? Früher zu Fuß, heute mit dem Rad. Schmerzüberwindung, Grenzerfahrung, Heroismus – viele verklärende Ideologien haben zur Erklärung herhalten müssen, auch die Philosophie hat sich immer gern mit dem Gipfelsturm beschäftigt. „Wohl aber liegt das Leben, das wir das selige nennen, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so sagt man, führt zu ihm empor", notierte der Dichter Francesco Petrarca 1336 mit Blick auf den Ventoux. Nach geschafftem Aufstieg hat sich Petrarca auf dem Gipfel Augustinus vorlesen lassen: „Und es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge – und haben nicht acht ihrer selbst." Der Sprachphilosoph Hubert Ivo sah es später weniger emphatisch. Auf dem Weg zum Gipfel, sagte er, lasse sich erfahren, was man könne und was nicht. So einfach ist das.
Längst haben sich die Extreme verschoben, hin zum Freizeitsport, und für die meisten, die auf den Ventoux radeln, sind sie nichts Ungewöhnliches mehr. Sie wissen alles über den Ventoux, wenn sie unten stehen. Sie wissen, dass die Strecke zwei Stunden lang keine Atempause gönnen wird, aber sie wissen auch, dass das alles nur Theorie ist – und in der Theorie schmerzt der Tibialisnerv nicht, das ist der Unterschied.
Nie wieder, heißt es oben. Aber das haben sie auch schon nach dem ersten Marathon gesagt, nach dem ersten Triathlon, und deshalb weiß jeder, dass diese Absichtserklärungen bestenfalls ein paar Stunden halten. Sicher ist diesmal nur, dass man ähnliche Anstrengungen bislang weder beim Marathon noch beim Triathlon erlebt hat. Zwei Stunden am Rande der Erschöpfung – das ist eine neue Erfahrung. Wie schnell das „Nie wieder“ vergessen sein wird, läßt sich schon auf dem Gipfel erahnen. Man gratuliert sich, die erschöpften Gesichter leuchten vor Stolz, und abends im Restaurant in Entrechaux werden bei einer Flasche Côte de Ventoux schon neue Pläne geschmiedet.
Was als nächstes? Weil mit dem Rad auf den ersten Blick nicht viel mehr möglich ist, als die Erbarmungslose hinaufzuradeln, haben die Bergsteiger das Wort. Den Biancograt im Herbst? Den Monte Rosa?
Und mit dem Rad? Galibier? Alpe d'Huez? Oder aber: alle drei Routen auf den Ventoux an einem Tag? Müsste machbar sein, nächstes Jahr. Armer Nervus tibialis.