Angeklagt ist der Lkw-Fahrer, Armin N. aus Ahlen. Der 54-Jährige ist Berufskraftfahrer und war am 25. August nicht zum ersten Mal in Höxter unterwegs. "Ich bin nach rechts auf die Brenkhäuser Straße abgebogen, da haben mich nette Leute reingelassen, das passiert ja auch nicht so häufig", erinnert sich N. Zugmaschine und Anhänger ordnen sich in zunächst stockenden Verkehr ein, wie N. berichtet. Schließlich habe sein Lkw als drittes Fahrzeug an der Ampel gehalten. Armin N. behält wie er berichtet, die Spiegel und den Verkehr im Blick.
Marion D. und ihr Mann fahren auf der Brenkhäuser Straße Richtung Kreuzung. Auf Höhe der Kaserne, wo gerade mit großem Hallo der Kommandeur verabschiedet wird, überholen sie eine Fahrradfahrerin. Kurz hinter dem Lkw von Armin N. kommen Marion D. und ihr Mann zum Stehen. Dazwischen steht nur noch ein cremefarbenes Auto, erinnert sich Marion D. Die Radfahrerin zieht nun ihrerseits zügig rechts an ihnen vorbei. "Ich war Beifahrerin, sie fuhr direkt neben mir vorbei." Marion D. kennt die Radlerin. Es ist Margarethe O. "Sie hatte gar kein Auto, sie ist immer nur Fahrrad gefahren."
Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung hat Karl P. rot. Der 70-Jährige will nach links Richtung Godelheim abbiegen, muss aber warten. Derweil kommt Michael L. aus Richtung Godelheim an die Kreuzung. Er war gerade beim Zahnarzt und will nach Hause. Neben Michael L. hält Günther W., der nach rechts abbiegen will. Und aus Richtung Albaxen nähert sich Yvonne V. Sie blinkt nach rechts, um auf der Brenkhäuser Straße weiterzufahren.
"Der Lkw ist rechts abgebogen, sehr, sehr langsam", schildert Yvonne V. Das Fahrzeug schiebt sich direkt in ihr Blickfeld. "Der Lkw war schon ziemlich weit rum, als ich auf dem rechten Bürgersteig eine Person im Kapuzenpulli sah, die aufgeregt war und rief", berichtet V. und ahmt gestikulierende Bewegungen nach. Karl P. hat von der Brenkhäuser Straße aus eine andere Perspektive und sieht: "Die andere Seite hatte wohl grün. Da kam erst die Radfahrerin und kurze Zeit später der Lkw." Der Lastwagen sei dann abgebogen. "Die Radfahrerin habe ich nie wieder gesehen."
Michael L. und Günther W. sehen den Lkw Richtung Godelheim abbiegen. "Der Lkw kam um die Kurve und da hing ein Mensch dran, der fürchterlich geschrien hat", schildert Michael L. Der 55-Jährige beginnt selbst zu schreien, und hupt, um den Lkw-Fahrer darauf aufmerksam zu machen. Günther W. drückt derweil den Warnblinkerknopf, sucht sein Handy und wählt den Notruf. Michael L. springt seinerseits aus dem Wagen, läuft auf den Lkw zu, ruft und gestikuliert.
Zwei Fahrzeuge hinter dem Lkw wählt auch Marion D. die 112. "Ich wollte aussteigen und hinlaufen, aber mein Mann sagte: Bleib sitzen, du kannst nichts tun. Es hieß hinterher, da sei Geschrei gewesen. Ich habe nichts gehört, es war alles still." D. und ihr Mann fahren geradeaus an dem abbiegenden Lkw vorbei.
Im Fahrerhaus merkt nun Armin N., dass irgendwas ganz und gar nicht stimmt. Das Fahrzeug hat geruckelt. Verrutschte Ladung? Im Seitenspiegel sieht der Fahrer etwas unter seinen
Reifen. Er bremst, steigt aus, schaut nach, schreit. "Er war fassungslos", beschreibt Michael L. den Angeklagten.
Auf dem Rechtsabbieger auf die Brenkhäuser Straße sieht nun auch Yvonne V., was los ist. "Eine Person wurde von dem Lkw überrollt", schildert sie, dann unter Tränen: "Ich habe das Auto geparkt und bin direkt hin, ich wollte helfen. Aber mir war sofort klar, dass sie sterben würde."
Gutachter und Polizei rekonstruieren den Unfall. Die Polizei kommt. über die Leitstelle wird auch Gutachter Werner Brand aus Nieheim gerufen. Er fährt hin. Gemeinsam mit der Polizei werden Spuren gesichert und dokumentiert. Lkw und Fahrrad werden sichergestellt. Zwei Tage später schaut sich Brand die Fahrzeuge gemeinsam an, sucht nach "Anstoßspuren" und kombiniert seine Erkenntnisse mit den Spuren, die vor Ort gesichert wurden, und den Informationen aus dem Fahrtenschreiber des Lkw.
"Erste Spuren befanden sich vorne rechts am Lkw", schildert der Gutachter. Das Rad wiederum habe passende Spuren am Korb auf dem Gepäckträger aufgewiesen. Das war der "Erstkontakt". "Die Spuren sprechen dahingehend, dass die Geschwindigkeit des Rads größer gewesen sein muss als die des Lkw." Auf erste Splitter auf der Fahrbahn folgten dann Wisch- und Kratzspuren. Brand geht davon aus, dass sie die Stelle markieren, wo Margarethe O. samt Fahrrad unter den Lkw geriet. Als der Lastwagen zum Stehen kommt, liegen Frau und Fahrrad hinter der dritten Achse. Das Ganze hat 14 Sekunden gedauert. Vom Anfahren bis zum Anhalten. In diesen 14 Sekunden hat der Lkw mit einer Maximalgeschwindigkeit von 14 Stundenkilometern ("eine normale Abbiegegeschwindigkeit") 53,5 Meter zurückgelegt.
Der Unfall wurde rekonstruiert. Gutachter Brand kommt zu dem Schluss, dass Armin N. die Radfahrerin habe sehen können, als er losfuhr und die Frau nach den Berechnungen noch 39 Meter von der Ampel entfernt gewesen sei. "Sie ist dann natürlich nicht wahnsinnig groß im Außenspiegel zu erkennen", sagt der Gutachter. Mit 15 bis 20 Stundenkilometern sei sie auf die Ampel zugefahren. Die letzte Möglichkeit, um zu
bremsen, hätte Armin N. 6,1 Meter nach dem Anfahren gehabt. Wäre das passiert, wäre wohl der Unfall nicht passiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte Margarethe O. dem Gutachter zufolge noch sechs oder sieben Meter bis zur Ampel und 13 Meter bis zur Kollision.
"Man wird, wenn mal will, den Verschuldungsvorwurf begründen können", sagt Richterin Christina Brüning, "aber nur ganz gering". Gleichzeitig konstatierte Brüning, dass die Radfahrerin zumindest "sehr unbedarft" unterwegs gewesen sei. Mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft einigt sie sich darauf, das Verfahren gegen Armin N. einzustellen. Er muss jedoch ein Monatsgehalt - 1.700 Euro - an die Verkehrswacht Höxter überweisen. "Man kann gar nicht genug gucken, aber da werden Sie sich sicher selbst schon genug Gedanken zu gemacht haben", richtet Brüning letzte Worte an Armin N. "Ja", entgegnet der und atmet mehrmals tief durch.
Quelle: Neue Westfälische, 30.11.2022