Macht mich ein wenig ratlos. Ich fahre nach wie vor locker, und das schreibe ich nicht als Angabe oder Protzerei. Es ist einfach eine Tatsache.Hallo!
Ich fahre seit 30 Jahren Rennrad. Bis vor ca 6 Jahren hatte ich kaum brenzlige
Situationen, aber in den letzten Jahren wurde es immer schlimmer. Neben einigen kritischen
Situationen wo ich nur durch gute Reaktionen meinerseits davon gekommen bin, hat
mich eine 78 jährige Dame 2017 bei 45 km/h auf einer leicht abschüssigen Straße abgeräumt.
Sie hat mich schlicht übersehen und mir die Vorfahrt genommen. Mein Helm
hat mir dabei das Leben gerettet!
Ich fahre nicht mehr locker auf meinem Rad. Jeder Andere ist für mich mittlerweile eine
potentielle Gefahr.
Viele Grüße
Peter
Was ich vor allem regelrecht erschreckend finde: Da ich der Meinung bin, daß Angst neben dem Fehlverhalten anderer, eigener Fehler und Unaufmerksamkeit und den Gefahren, die durch die Überlastung unseres Verkehrssystem drohen die größte Gefahr für unser Leben und unsere Gesundheit ist. Angst ist tödlich.
Ich weiß nicht, ob man das aus deinem Satz "Ich sitze nicht mehr locker auf meinem Rad" schlußfolgern kann und hoffe, ich verstehe es falsch und du meinst damit nicht, daß du Angst hast, sondern dich sagen wir in "ständiger Bereitschaft" befindest. Allerdings: Auch die damit einhergehende Verkrampfung birgt Gefahren-Potentiale.
Ich überlege, was du tun kannst, davon wegzukommen.
Verstehe mich nicht falsch: Wenn du sagst, sie habe dir "die Vorfahrt genommen", kann man da einiges hineininterpretieren: Das geht von "ich habe auf der Vorfahrt bestanden und zu spät bemerkt, daß sie mich übersehen hat" bis "ich hatte keine Chance, weil sie mit hoher Geschwindigkeit einbog und ich auch kaum noch bremsen oder sonstwas konnte". Frage: Wo auf dieser Skala muß man dein Verhalten einordnen?
Was will ich mit dieser Frage bezwecken? Vor allem eines nicht: Dir selbst die Schuld geben. Das Ganze zielt darauf ab, deine Form der "gesteigerten Wachsamkeit", die aber eben von "Un-Lockerheit" begleitet ist, durch eine lockere, souverände Art der Wachsamkeit zu ersetzen.
Was meine ich damit? Auch wieder ohne Prahlerei: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, daß es jemand schafft, mich so umzunieten, wie es dir passiert ist. Der müsste im Prinzip aus einer Einfahrt oder schmalen Anliegerstraße in einer Art rausgeschossen kommen, daß er sich selbst gefährdet. Und das war ja hier nicht der Fall. Sie hatte Vorfahrt zu achten, hat das im Prinzip - wenn auch sehr obflächlich - wohl auch getan und dich, weil du weniger gut auffällst als z.B. ein Kraftfahrzeug und sie Radfahrer wohl auch nicht auf "dem Schirm" hat, übersehen.
Wie gesagt: Es geht nicht um eine nachträglich "Umbiegung" der Schuldfrage, sondern darum was du tun kannst, um künftig "lockerer" zu sein, ohne auf die erforderliche "Bereitschaft, auf das Schlimmste zu reagieren", zu verzichten.
Was mir z.B. hilft: Ich fahre seit über 50 Jahren Radrennen, und fahre entsprechend Trainieren, mal mehr mal weniger. Bis heute ca. 350 - 380 Tkm. Ich habe mit einigen Vorsichtsmaßnahmen schon begonnen, als ich mit dem Radsport begonnen habe:
- Im Stadtverkehr bzw. wenn es viele Einmündungen u. dergl. gibt, mindestens in der Mitte des rechten Fahrstreifens fahren und damit dem nachfolgenden Verkehr den Weg versperren. Damit schaffe ich selbst einen vergrößerten Sicherheitsabstand.
- (die folgenden Dinge habe ich mir im Laufe der Zeit angeeignet): Kontinuierlich checken, ob nötigenfalls auch ein ausweichen auf den Gegenverkehr-Fahrstreifen möglich ist
- wenn das über längere Abschnitte nicht möglich ist, die Geschwindigkeit deutlich verringern - ich fahre ja kein Rennen und wenn ein Intervall oder was auch immer ich da veranstalte, dadurch abgebrochen werden muß, dann ist das eben so
- stets bei allem, was links und rechts auftaucht, so schnell wie möglich Blickkontakt aufnehmen oder sonstwie eine Einschätzung gewinnen, a. ob der mich sieht b. wie er drauf ist, ob er z.B. auf seinem (vermeintlichen) Recht bestehen wird usw.
Ich weiß - im Prinzip läuft das Ansatzweise schon auf eine Umkehr der Schuldfrage, mindestens aber der Verantwortung hinaus. Aber das ist eben immernoch besser, als unter der Erde zu enden. Wenn dann auf dem Grabstein steht "Er hatte Vorfahrt" macht mich das nicht wieder lebendig.
Eines noch: Das hört sich alles so an, als führe ich sehr vorsichtig und defensiv. Das ist nicht der Fall. Ich fahre ziemlich offensiv. Was mir dabei einfällt, vielleicht auch ein Tipp: Ich habe eine riesengroße Fresse im Straßenverkehr. Das sieht wirklich so aus, als stünde ich kurz vorm Herzinfarkt oder dafür, komplett auszurasten. Vor sagen wir 10 - 15 Jahren war das auch noch überwiegend so. Inzwischen ist das reine Schauspielerei. Ich schaue auch immer, daß der Fluchtweg offen ist, und ich wenn er mich beim Wort nimmt, mich verkrümeln kann. Also praktisch "Große Fresse und nichts dahinter"
Das klingt nicht besonders klug, aber es hat mir geholfen, mich jederzeit lautstark bemerkbar zu machen. Eine Autokabine ist nicht besonders Schalldicht. Und wenn man laut hey oder sonstwas ruft, hört der Kraftfahrer das. Eine Klingel würde er nicht hören. Es hilft mir auch, eine aggressive Grundhaltung zu bewahren. Bei mir ist jeder Autofahrer erstmal vorab verurteilt als "dummes Arschloch, der mich umfahren will". Warum ist diese aggressive Grundhaltung so wichtig? Wenn du schreist, und das hat mir Nachweislich schon ein paarmal das Leben gerettet, dann darf das nicht als flehendes Wimmern oder angsterfülltes Kreischen rüberkommen. Ich mache inzwischen so, daß ich regelrecht eine um eine Oktave tiefere Stimmlage annehme und versuche, voll und "herrisch" zu klingen.
Hört sich wie gesagt komisch an. Aber vielleicht verstehst du, was ich meine. Vielleicht hast du da auch dein ganz eigenes Repertoire. Oder du montierst dir eine LKW-Hupe ans Rad, das wäre aber illegal.
Es geht um unser Leben. Da ist alles erlaubt.
Und nochmal: Du musst unbedingt wieder locker werden. Wenn dir das nicht gelingt, ist dein Leben genauso in Gefahr, wie wenn du auf einmal zu unvorsichtig werden würdest.