Wann wäre denn für dich der Moment gekommen, nicht mehr auf dem Teppich zu bleiben? 30% bei einer Bundestagswahl? Ein Abschaffen des Grundsatzes von "mit denen koalieren wir nicht"? Wenn AfD + BSW auf eine regierungsfähige Mehrheit kämen? Eine über die letzten Jahre immer weiter steigende Tendenz hin zu einer Partei, in der nachweislich Rechtsradikale und sogar ein juristisch anerkannter Faschist in Führungsposition ihr Unwesen treiben, kannst du ja nicht abstreiten, oder?
Die Frage ist ernst gemeint, den Vergleich ziehe ich jetzt bewusst tief aus der Albtraum-Kiste: die NSDAP saß auch schon in Parlamenten und das Gedankengut sickerte in die Bevölkerung, bevor es zur Machtübernahme kam. Und politisch dachte man bis dahin, man könnte auf dem Teppich bleiben und diesen Verrückten ja irgendwie 'kontrollieren' (bzw. hat ihn besser im Blick), wenn man ihn zum Reichskanzler ernennt.
Es gibt ja leider auch bei vielen Menschen den Ansatz von "die AfD wird sich schon selbst entzaubern, wenn sie denn mal in Regierungsverantwortung sind".
Faire Frage, ich schulde Dir eine Antwort.
Erstens, ich denke, unsere Demokratie ist etwas robuster, als es die Weimarer Republik war. Wir haben nicht umsonst Föderalismus, Gewaltenteilung und unabhängige Medien.
- Zweifel an der Effektivität von Gewaltenteilung und ÖRR-Unabhängigkeit gelten als rechts und als unbegründet. Insofern sollte man in diese demokratischen Institutionen und ihre Stabilität erstmal Vertrauen setzen.
- Ein MP Höcke in Thüringen könnte unterliegt Beschränkungen. Er ist an die Thüringer Landesverfassung und das GG gebunden, und unabhängige Gerichte prüfen das. Selbst mit einer Bundestagsmehrheit müssen alle wichtigen Gesetze durch den Bundesrat. All das, was uns bei Digitalisierung, Bildung etc. ausbremst, hat ja seinen Sinn - nämlich genau diesen.
Zweitens, ich hatte lediglich aufgefordert, weniger zu hyperventilieren. Weil das zur-Schau-Stellen der eigenen Entrüstung, inklusive polemischer Forderungen nach Wiedererrichtung der Mauer und ähnlicher vulgärpopulistischer Entgleisungen die 30 Prozent so wenig verhindern wird, wie es die aktuellen 15,9 Prozent und all die Zuwächse davor nicht verhindert hat. Das heißt nicht, dass ich das Ergebnis gut finde. Nur der Umgang damit ist halt offensichtlich nicht effektiv. Mehr von demselben wird's nicht richten.
Drittens, wer die AfD als Partei von der Macht fernhalten will, der kann nicht länger ihre Wähler und Sympathisanten einfach als Dumme abstempeln, die vom rechten Weg abgekommen sind, und von denen man sich keinesfalls unter Druck setzen lassen darf. Was der rechte Weg ist, das bestimmen weder das Parteiprogramm der auf 12 Prozent geschrumpften Grünen, noch das der ebenso abgestürzten SPD, noch irgendwelche moralischen Glaubenssätze von Medienschaffenden. Schon gar nicht ist der rechte Weg einfach das Gegenteil von dem, was die AfD will. Der rechte Weg in einer Demokratie ist der, der Mehrheiten findet und sich dabei innerhalb der Leitplanken von Grundgesetz, Ethik, Völkerrecht etc. bewegt.
Wenn die Menschen das Gefühl haben, objektiv informiert statt belehrt zu werden, wenn sie sehen, dass die Politik ihre Probleme angeht statt sie zu tabuisieren, wenn die Politik aufhört, sich mit an Randproblemen abzuarbeiten, wenn man unbequeme Fragen stellen, eine andere Meinungen haben und vielleicht auch mal eine falsche Abbiegung nehmen darf, ohne gleich stigmatisiert zu werden, dann wird die AfD uninteressant. Allerdings hat man in den letzten Jahren rund um Corona, Flüchtlingspolitik und Energeiwende dermaßen viel Porzellan zerschlagen, dass eine Umkehr schwierig wird. Gibt man heute der AfD nach, wird der erste Impuls der AfD-Sympathisanten sein: Schau, es wirkt. Steuert die Union um, heißt es: Sie fressen Kreide. Aber es hilft nix, hier muss umgesteuert werden. Jeder Tag Warten macht die Sache schlimmer. Ich sehe hier primär die Ampel und den ÖRR in der Pflicht, bin allerdings skeptisch.
Viertens, auf die Entzauberung zu hoffen ist sicher riskant, aber bei den Grünen hat es ziemlich gut funktioniert. Die Leute sind nicht so blöd, wie Meinungsmacher das immer unterstellen.