Früher, also vor 10 Tagen, als ich das letzte mal auf einem Rad saß, ist weit weg. Ewig weit weg, weit weit weg.. Wie sich so ein geschmeidiger, weicher Wildledersattel anfühlte,, wie man ausgedörrt von der Sonne nach 10 Stunden wie John Wayne vom Drahtesel absteigt, wie einen der Wind von vorne in die Nase blies und ständig versuchte, einen vom Rad zu böen, wie lecker diese süßen kleinen schwarzen Getreidemücken schmeckten, wie sich der Regenstrahl vom
Reifen des Vordermanns in dein Gesicht ergießt, all diese schönen Dinge, die jedes Radlerherz höher schlagen lassen, all das war nur noch verschwommene Erinnerung, nebulös im Unterbewusstsein verfügbar, fast schon nur noch als Traum erlebbar, das war schon so weit weg, dass ich spontan nicht hätte sagen können, wann genau ich das letzte mal auf dem Rad gesessen bin.
10 Tage, zehn lange lange Tage. Mir fällt dazu nur die Unendlichkeit als passender Vergleich ein.
In der Zwischenzeit beinahe dahingerafft vom bösesten aller boshaftigen Übeln, dem Namen "Erkrankung" nicht gerecht werdend, Kenner wissen Bescheid, denn ja, es geht um ihn, ihn, dem gefürchteten Männerschnupfen - ja, spottet nur, so harmlos der Name, so grausam das Dahinsiechen, einsam und allein, verlassen von der Welt, kraftlos und ausgemergelt, erschöpft, fast schon nicht mehr da. So verbrachte ich die letzten 10 Tage.
Zu schwach, um die Fernbedienung des Fernsehers zu drücken, zu schwach, den Drehregler des Herdes zu betätigen, um dem Topf mit einem Schlückchen kraftspendende Hühnerbrühe anzuwärmen, kein Bier schmeckte, keine Eltern in der Nähe, die einen bemuttern hätten können (was müssen die auch einfach in den Urlaub fahren?!)... Und das alles, weil einem der kleine erkältete Neffe, der Rotzbub, direkt ins Gesicht geniest hat, weil er mit seinen 1,5 Jahren immer noch nicht gelernt hat, sich gefälligst die Hand vor den Mund zu halten, wenn man niesen muss.
Irgendwann, als ich dachte, das wars jetzt dann bald, Adieu du schnöde Welt, da merkte ich, als ich mit zitternden Knien meine morgendliche Zahnübung vor dem Badezimmerspiegel vollführte, dass ich gar nicht schlotterte, weil es mir so dreckig ging, sondern weil das Badezimmerfenster des Nachts offen stand und es verdammt frisch im Raum war, was so ganz ohne Kleidung doch etwas kühl anmutete. Und siehe da, kaum hatte ich festgestellt, dass ich die Zahnbürste wieder länger als 10 Sekunden führen konnte, ich mich auch länger als 5 Minuten außerhalb des Bettes/Couch aufhalten konnte, da war mir schlagartig bewusst: Mensch, das Schlimmste hast du überstanden! Du hast diesem teuflischen Bazillus die Stirn geboten, ihn zurückgedrängt, dein Leben aus seinen Klauen zurückerobert!
Es dauerte dann noch ganze 3 Tage, bis heute, dass ich wieder halbwegs die Tastatur im Büro bedienen konnte, ohne vor lauter Schwäche vom Stuhl zu rutschen, den Telefonhörer auch mal mühelos über 5 Minuten am Ohr halten konnte, ohne einen Schweißausbruch zu bekommen.
So, dachte ich, wenn ich schon soweit bin, wie ich jetzt bin, dann kann ich auch mit dem Rad zum Plotten fahren.
Gesagt getan, die Tasche geschnappt, die Schuhe angezogen (ok, da musste ich mal kurz zweimal länger aus- und wieder einatmen, damit der Puls wieder stimmte), das Nishiki auf die Schultern und die zwei Treppen runter, Treppe zur Straße wieder rauf und voooorsichtig aufs Rad, antreten, es rollt... jaaaa, es rollt, wie geil! Zum Glück gings dann gleich weiter den Berg runter auf die Hauptstraße, links weg zur Stadtmitte, nach einem Kilometer war der Copyshop erreicht. Mächtig stolz auf diesen Kraftakt wartete ich 10 Minuten auf meine Pläne, dann gings wieder zurück.
Oh Mist, der Berg. Naja, wozu hat man eine Dreifachkurbel
Nachdem ich auch diesen Anstieg geschafft hatte, ich aber noch nicht ganz geschafft war, traute ich mir das nächste Ziel zu: einkaufen!
Wieder den Berg auf der anderen Seite runter, links, geradeaus, nach einem Kilometer war auch schon der Edeka da.
Um eine ganze Flasche Milch und ein paar Bananen und Äpfel schwerer trat ich den Rückweg an, und oh Wunder, auch diesen schaffte ich recht ordentlich.
Na gut, dann mal ganz anders krass: ich lechzte, nach unendlich langer Abstinenz nach Wind, Sonne, Luft, Bewegung, Mücken, Schweiß. Kein Wunder, nachdem ich wie Tantalos leiden musste, umgeben von edlen Rennboliden aus Stahl, die nur auf eine spritzige Runde mit mir warteten, aber es war mir für so lange Zeit nicht vergönnt. Aber jetzt! Warum nicht, nachdem es heute ausnahmsweise mal nicht geregnet hat und kaum Wind herrschte, warum also nicht eine kleine Runde mit dem GLS versuchen? Uuuuaahaaa, ganz schön verwegen.
Daheim umgezogen, die Nase geschneuzt und schon konnte es losgehen.
Aaaaah, wie geil! So musste sich Sulka gefühlt haben, schoss es mir durch den Kopf. Brüder im Geiste, beide von den Toten auferstanden, dem Tod von der Schippe gehüpft, juchuu!
Ok ok, genug euphorisiert. Aber es war wundervoll, wie frisch geschlüpft. Unglaublich schön. Wie eine Neugeburt, raste ich mit einem 24er Schnitt meine Hausrunde dahin, rotzend und gleichzeitig die Luft gierig einsaugend, glücklich, übermannt von der Vorfreude, meinen Lieblingsitaliener mal wieder zu Gesicht zu bekommen - ob er mich wohl noch erkennt?- flog die Welt nur so an mir vorbei.
Leut, ich sags euch, das ist besser als Sahne auf dem Eiscafé, besser als ein Dreier im Lotto, besser als wenn man nach dem Verschlucken wieder Luft bekommt. Radfahren ist eine Weltmacht! Und mein Italiener mit seinem Eis auch!
Geil geil geil wars, jetzt darf ich es nur nicht überstürzen, sonst lieg ich wieder ne Woche flach. Aber ich wollte euch unbedingt an meinem Schicksaal teilhaben lassen, denn: egal, wie tief man kommt, es geht immer wieder bergauf. Das wollte mir dieser Pfeil heute auch sagen, deswegen durfte er mit meinem GLS zusammen auf ein Bild.
Bis demnächst hier in diesem Kanal, schön die Hand vor den Mund halten, ihr wisst schon...
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