Dabei herrscht in den Ländern um uns herum einfach eine andere Kultur - geh mal nach Frankreich oder Italien und beobachte, wie die Menschen dort mit Gesetzen und Regeln umgehen. Es ist Kultur, diese zu interpretieren und deren Auslegung zu dehnen - und weil das alle machen, funktioniert das ziemlich gut. Die deutsche Kultur ist es dahingegen, alles bis aufs Letzte genau zu regeln und dies dann nach Möglichkeit buchstäblich zu befolgen.
Beide Kulturen haben ihre Vor- und Nachteile - die deutsche Kultur sorgt für hervorragende technische Spezifikationen, die "flexiblere" Kultur unserer westlichen und südlichen Nachbarn dagegen eher für ein "Leben und Leben lassen" und eine Grundstimmung des Miteinanders anstatt eines Gegeneinanders.
Finde ich eine gute Sichtweise und mir ist dabei folgende Passage aus dem unterhaltsamen Buch "Gironimo" von Tim Moore eingefallen, wo er auf einem historischen Rad einen Giro aus den Anfangsjahren nachfährt.
Hier auf dem Weg aus Rom:
"Der Weg aus der Stadt heraus war der blanke Horror, voller Schlaglöcher und Müll und Sonntagsfahrern auf der Jagd nach zweirädrigen Opfern. Römische Autofahrer sind notorische Drängler und unfähig, sich vor Kreuzungen einzuordnen. Auch große rote Achtecke mit weißer Schrift interpretieren sie allenfalls als Empfehlung, ein klein wenig langsamer zu fahren, wenn sie denn Lust haben.
Die Verkehrsregeln zu missachten, passt zur national verankerten Ablehnung jeglicher Autorität: Wenn ein Autofahrer einen Meter über die Haltelinie fährt, hat er nicht nur einen Radfahrer zu Tode erschreckt, sondern auch einen Meter von denen da oben zurückgeklaut.
So wie die meisten Briten spreche ich meinen Mitverkehrsteilnehmern jegliches Einfühlungsvermögen ab. Andere Autofahrer, und zwar restlos alle, nehme ich als Automaten wahr, die unfähig sind, auf neue Situationen unabhängig und angemessen zu reagieren. Wenn ich also vor einem anderen Fahrzeug in den Verkehr einfädle, gehe ich davon aus, dass es einfach mechanisch seinen Weg fortsetzt und mich somit überfährt, so dass ich sterbe.
Der römische Verkehr aber ist ein interaktives Multiplayer-Game für wirklich lebendige Menschen. Wenn ein Römer unvermittelt aus einer Seitenstraße herausschießt, so tut er dies in der Annahme, dass Sie ein anpassungsfähiges und eigenständiges Individuum sind und daher in der Lage, ein spontanes und im Idealfall elegantes Ausweichmanöver einzuleiten. "Komplett irre, ich weiß", sagen die Römer dann, "aber es funktioniert!" Außer, wenn es mal nicht funktioniert, was - der Karosserie so ziemlich aller römischen Autos nach zu urteilen - eigentlich fast immer der Fall ist.
Wie auch immer, an diesem Morgen entwickelte ich eine Verteidigungsstrategie und -maxime, die mir für den Rest meiner Reise gute Dienste leistete und da lautete: "Male dir das Eigensinnigste und Leichtsinnigste aus, was ein gegebener Autofahrer als Nächstes tun könnte, und dann schaue ihm dabei zu, wie er genau das tut."
Weiter, immer weiter ging es, durch endloses, schmutziges Hinterland aus Baumärkten und Nahtoderlebnissen. Es war schwierig, das richtige Tempo zu finden. Geschwindigkeiten von weniger als 18 km/h wurden von Autofahrern als Zeichen von Schwäche aufgefasst und somit als Einladung, mich in den Rinnstein zu drängen. Mehr als 24 km/h ließen mir keine Chance, dem nächsten Idioten auszuweichen, der direkt vor mir auf meine Spur rüberzog. Dring-dring-dring-dring! In zwei Stunden benutzte ich die Klingel häufiger als in den ganzen zwei Wochen zuvor, aber schien es eine so klägliche Rüge für versuchten Mord zu sein, dass ich es schließlich aufgab."
Seite 226,
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