Tag 4:
Nach 5 Stunden Schlaf werde ich im 03:00 wach.
Zum Frühstück gibt’s 'nen guten Teller Reis mit Sauce, einen Yoghurt, einen O-Saft, noch 1 Banane für jetzt und eine zum mitnehmen, dazu warmes Wasser in meine Flasche mit dem letzten Tütchen Maltodextrin was ich noch mithabe.
Ich hänge mein Rad bei den Mechanikern nochmal in den
Montageständer und feinjustiere meinen Umwerfer noch mal.
Um 03:38 bin ich wieder auf der Straße; 122 km vor der Brust. Ich habe gut gegessen, geschlafen und bin Erholt. Das sollte doch in ~ 5 Stunden zu machen sein...
Von hinten werden keine guten Leute mehr kommen, die sind schon im Ziel.
Ich fahre wieder mein Ding. Ich fliege durch die Nacht. Ich überhole hunderte Kollegen die mit vielleicht 15 - 20 km/h unterwegs sind, in den Steigungen (keine 10%) auch teilweise schieben.
Einige fahren einfach nur langsam aber noch Rund. Die werden schon noch im Limit ankommen.
Andere torkeln bedenklich. Überall liegen Leute die in Goldfolie eingewickelt sind. Im Strassengraben, auf Bänken, in der Bank (die Luxusversion) oder wo auch immer.
Die sind nicht verunglückt, sondern die haben sich da schlafen gelegt.
Die Kollegen sind vor mir wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Ich fliege an Ihnen vorbei. Man sieht die Rücklichter und Warnwesten gut von weitem.
Man kann dadurch praktisch immer den Straßenverlauf schon von weitem erkennen obwohl es Stockdunkel ist.
Ich muss nur aufpassen weil die teilweise Schlangenlinien fahren oder ausscheren ohne nach hinten zu gucken. Die
Klingel ist im Dauerbetrieb.
Nach 20 km hügelig wird es flacher und für die restlichen 100 km bis ins Ziel sieht die Kette das kleine Kettenblatt nicht mehr.
Ein paar Fahrer hängen sich bei mir 'rein. Zwei von denen haben sich bereits gestern von mir ziehen lassen und bedanken sich „für das Geschenk was ich Ihnen damit mache“.
Gern geschehen - ich habe gerade gaaanz großen Spass.
Kurz vor Dreux verpasse ich einen Abzweig. Souvenierjäger haben die Beschilderung zum Teil mitgehen lassen.
Mit 6 Kollegen im Schlepptau fahre ich 1 km in die falsche Richtung, merke dass dann aber weil ich niemanden mehr vor mir sehe.
OK, 2 Bonuskilometer sind auch kein Problem.
In Dreux die letzte Kontrolle.
Verpflegung brauche ich nicht. Nur den Stempel.
Die Flasche mache ich nur noch halbvoll, es sind ja nur noch 44,5 km.
Und ich muss mich kurz auf's Töpfchen setzen. Leider muss ich hier (zum ersten Mal) ~ 5 Minuten Schlange stehen.
Egal, ich bin sehr gut unterwegs, es läuft. Adrenalin & Endorphine bis in die Haarspitzen.
Hinter Dreux fahre ich in die Morgendämmerung:
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Nur ein einziger Kollege kann sich noch für 15 - 20 km hinter mir halten.
Ich fliege ins Ziel.
122 km plus 2 Bonus - km in 4:40 Stunden brutto – wenn man jetzt nochmal geschätzt 10 Minuten abzieht für die Kontrolle in Dreux, dann sind's 4 ½ Stunden reine Fahrzeit für die 124 km.
Wow, das hat gefetzt!
Klar - ich hätte auch in Mortagne weiter fahren können. Vielleicht sogar bis ins Ziel.
Vielleicht wäre ich dann gegen 03:00 bis 04:00 morgens unter 72:00 Stunden angekommen weil ich sicher nicht das selbe Tempo hätte durchhalten können.
Aber ich hätte mich geschleppt.
Vielleicht wäre sogar der „Mann mit dem Hammer“ gekommen und hätte mich vom Rad geholt. Vielleicht hätte ich dann auch in Goldfolie im Strassengraben gelegen (so kalt war's ja nicht) und ich hätte das wohl auch überlebt.
Meine Zeit wäre auf dem Papier eine bessere gewesen.
Aber es hätte wohl keinen Spass mehr gemacht. So hatte ich eine bessere Zeit.
Ich hatte die Wahl. Und ich habe mich entschieden, meine Komfortzone nicht zu weit zu verlassen.
Im Ziel dann erst 'mal noch Essen.
Dann bin ich für ein Zielfoto zum Einlaufbogen gegangen.
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Das Foto hat eine Dame aus Australien gemacht.
Ich erzähle Ihr von meinem Erlebnis am Sonntag - dass ich Simon zu den Sanis gebracht habe.
„Ach du warst das“.
Die Herrschaften sind befreundet.
Die Dame erzählt mir dass es wohl etwas schlimmer sei als die Sanis mir am Sonntag erzählt hatten. Er liegt im Krankenhaus. Besuchszeit nur nachmittags.
Meine Feierlaune schlägt um in Betroffenheit.
Freud und Leid sind oft ganz dicht beieinander. Oft sind es nur Winzigkeiten, die den Unterschied machen.
Ich fahre zum Auto - hole frische Zivilklamotten - gehe Duschen und fahre dann direkt ins Krankenhaus.
Ich überrede die Krankenschwestern, dass ich Ihn besuchen darf, obwohl keine Besuchszeit ist.
Der Kollege liegt da und kann sich nicht bewegen. Hüfte angebrochen.
Ich weiß, wie das ist. Vor gut 4 Jahren hatte ich das auch. Aber ich lag im Krankenhaus in meiner Stadt. Die Leute sprachen meine Sprache und ich hatte viel Besuch. Er hat nur seine Frau.
Er kann vielleicht in 3 - 4 Wochen liegend nach Hause ans andere Ende der Welt (Tasmanien) transportiert werden.
Beschissener kann's nicht laufen.
Ich lasse Ihm meine Medallie.
Wenn er in ein paar Jahren wieder kommen sollte, dann schickt er mir seine.
Liebe Leute - wenn euch mein Bericht gefallen hat - dann tut mir einen Gefallen:
Schreibt dem Mann ein paar Postkarten.
Am besten so bald wie Möglich. Der braucht das gaaanz dringend!!!
Adresse:
Simon Ward
Update folgt, der Mann wird verlegt. Oder bis dahin E-Mail: smn_ward ät yahoo.com
Meine Feierlaune war weg. Ich bin deshalb direkt nach Hause gefahren.
Zurück in meine gewohnte Umgebung und Komfortzone...