AW: was spricht gegen einen weichen breiten Sattel
Wichtig ist nicht, wie schmal, breit, leicht, schwer oder dick und dünn gepolstert ein
Sattel ist - sondern, wie gut er zu Dir passt.
Da kann es sein, dass Du einfach einige Sättel ausprobieren musst. Aber bitte nicht gleich nach zwei, drei Stunden verzweifeln und den nächsten kaufen, das führt nur zu einer total sinnlosen Sattelsammlung. Ein Stück weit gewöhnt sich nämlich immer auch der Fahrer an den
Sattel.
Meiner Meinung nach wird um den
Sattel in den letzten Jahren viel zu viel Aufhebens gemacht, obwohl (oder weil?) die Dinger einfach unverschämt teuer geworden sind. Vor ca. 20 Jahren gab es nur eine Handvoll Rennradsättel, die allesamt ordentlich ausgedacht waren (außer vielleicht dem Rolls) und mit denen fast jeder zurecht kam.
Noch 20 Jahre früher gab es praktisch nur eine einzige Bauart, nämlich mit Kernlederdecke - und diese passte sogar ausnahmslos jedem.
Es wirkt also auf den ersten Blick so, als wäre jede Weiterentwicklung des Fahrradsattels eigentlich mit einer Einschränkung seines tatsächlichen Nutzwertes verbunden gewesen, was aber nur teilweise stimmt.
Schauen wir uns den Vater aller Sättel an: Den Kernledersattel, heute z.B. noch bei Brooks im Programm. Dort wird eine Satteldecke aus mehrere Millimeter starkem, derbem Leder vorn und hinten mit schlanken Metallrahmen vernietet, die wiederum mit einem Gestell aus Stahldraht verbunden sind. Vorn lässt sich die Decke gegenüber dem Gestell mit einer Schraube spannen. Natürlich ist ein neuer Kernledersattel prügelhart und meistens auch schmerzhaft - aber das hat durchaus seinen Sinn. Im Laufe etlicher Stunden wird das Leder nämlich immer weicher und passt sich so der Anatomie des Fahrers an, wobei die Decke insgesamt natürlich auch noch elastisch schwingen kann. Ein gut eingerittener Ledersattel braucht zwar etwas Pflege (fetten/ölen, ab und zu nachspannen), kommt aber interessanterweise völlig ohne Polster aus und hält praktisch ein Leben lang.
Komfort? Wie auf Wolken! Nachteile: hohe Herstellungskosten, hohes Gewicht, Pflegeaufwand wird von den wenigsten Nutzern heute noch verstanden.
Irgendwann kam dann ein schlauer Kopf auf die Idee, dass man doch viel leichtere und billigere Sättel aus Thermoplast herstellen könnte, womit der Unicanitor und damit das heute noch gängige Prinzip des gepolsterten Plastiksattels geboren war.
Da Thermoplast-Schalen mit sehr dünner Wandstärke schwierig herzustellen sind, war bei dieser Bauform mangels Flexibilität und vor allem mangels bleibender Anpassung an den Fahrer von Anfang an eine Polsterung nötig. Jahrzehntelang gab es diese Ausführung praktisch unverändert in einer Reihe klassischer Formen, die allesamt eine sorgfältig ausgeformte Schale, ein möglichst langes Gestell und ein eher festes, nicht zu dickes Polster gemeinsam hatten. Den 600 g des Kernledersattels standen nun ca. 350 g kaum unbequemeres Material ohne jeden Pflegeaufwand gegenüber, noch dazu zum günstigeren Preis.
Ein heute noch gängiges Modell aus dieser Zeit ist der San Marco Regal, der Selle Italia Turbo kann als DER Klassiker schlechthin gelten und über diese beiden hat sich kaum je ein Fahrer beschwert. Warum also daran etwas ändern?
Zum einen, um Gewicht zu sparen - zum anderen, um mit allerlei Marketing-Geschwätz im Zeitalter der zunehmenden Individualisierung einen ordentlichen Reibach zu machen.
Die erste ernsthafte Weiterentwicklung des klassischen Plastiksattels war der Flite in seiner Urform. Die Abstammung vom Turbo ist ihm deutlich anzusehen, das Gestell ist formal sogar identisch, jedoch aus leichterem Titan. Die Schale wurde durch eine Reihe von Vertiefungen an der Unterseite und einen deutlich kürzeren "Rand" etwas leichter, aber auch flexibler, wodurch das Polster dünner und fester ausfallen konnte. Eigentlich ein kleiner Schritt zurück zu den wunderbaren Eigenschaften des Kernledersattels, wenn auch aus völlig anderen Gründen und vielleicht sogar eher zufällig.
Mit dem Flite 1 war der Plastiksattel auf unter 200 g gefallen, dabei aber sogar ein wenig bequemer geworden. Noch ein Klassiker, mit dem fast jeder zurechtkommt.
Nachdem die gute Grundidee durch allerlei Spielereien mit mehrfarbigen Bezügen und unterschiedlichen Polstermaterialien immer weiter verwässert wurde, ging der Kampf um den leichtesten
Sattel in die nächste Runde - und hier wird es absurd: Um von den hervorragenden 190 g des Ur-Flite noch etwas zu klauen, kamen die meisten Hersteller auf die saublöde Idee, die Sattelgestelle zu kürzen. Da das am Vorderende schwierig ist, endeten von nun an die meisten Gestelle einfach hinten einige Zentimeter früher, nämlich exakt unter den Sitzknochen des Fahrers!
Mehr muss man dazu eigentlich nicht mehr sagen, dafür sind seitdem aber Gewichte um 140 g möglich.
Ein weiterer Schritt die falsche Richtung sind Sättel mit zu flachem Gestell, wo dann bei Belastung die Schale im Dammbereich auf der Sattelstütze aufliegt. Autsch.
Oder die völlig behämmerten Monorail-Geschichten, bei denen endgültig überhaupt nichts mehr flext.
Nun war also der unbequeme
Sattel geboren und es mussten allerlei blumige Konzepte auf den Tisch, um den Kunden bei der Stange und das Gewicht weiterhin niedrig zu halten. Vergessen wir nicht: Ende der 80er kosteten Turbo und Kollegen etwa 30 bis 40 Mark, während ein prinzipiell gleich aufgebautes modernes Modell locker den doppelten Preis IN EURO erreicht und fast alles schlechter kann.
Und schon gab es Sättel mit Aussparungen in der Mitte, Elastomerdämpfern und absurden Schalenformen...
Viele Leute bekommen auf den Lochsätteln übrigens Probleme mit wunden Stellen genau am Rand der Aussparung - während die meisten von ihnen ihr Problem mit dem abgestorbenen Dödel auch durch simple Änderung des Neigungswinkels hätten lösen können. Des Sattels natürlich, nicht des Dödels.
Also alles im Eimer und der
Sattel an sich in einer Sackgasse?
Keineswegs, denn parallel waren längst Konstruktionen aus faserverstärktem Kunststoff auf dem Weg. Und solche Schalen und Gestelle aus Carbon und/oder Kevlar sind nicht nur leichter, sondern auch endlich wieder dünnwandig genug zum Flexen. Sie kommen daher auch wieder ohne Polster aus, bei kaum noch über 100 g.
Allerdings bleibt doch ein kleiner Nachteil gegenüber dem Kernledersattel: Das moderne Kohleteil passt sich seinem Fahrer nicht dauerhaft an.
Such Dir also zuerst einmal einen
Sattel, dessen Breite zu Deinem Becken passt. Deine Sitzknochen solltest Du mit einem forschen Griff zwischen die Beine eigentlich ertasten können, auf deren Abstand kommt es letztendlich an. Sonst nix.
Zum Messen kannst Du vielleicht versuchen, eine dünne Schicht Styropor bzw. Trittschalldämmungsmaterial (schönes Wort) auf einen möglichst straffen
Sattel zu legen. Dann draufsetzen, wobei sich das Styropor an den Kontaktstellen dauerhaft zusammendrückt und Du deine ganz persönliche Geometrie anschließend ausmessen kannst. Das dünne Styroporzeugs gibt es eigentlich an jeder Baustelle auf Rolle, für Trennfugen usw.
Andererseits fällt Dir ein grundsätzlich unpassender
Sattel meistens schon beim kurzen Probesitzen im Laden auf.
Dann achte auf ein möglichst langes Gestell, das auf keinen Fall unter den Sitzknochen endet. Wähle einen
Sattel mit eher dünnem Polster, drück mit dem Daumen oder Handballen an verschiedenen Stellen auf das Ding und beobachte dabei von unten, ob sich neben dem Polster auch die Schale eindrückt - je weiter, desto besser. Polster reibt auf langen Strecken nur unnötig, siehe oben.
Der Rest ist dann eigentlich Gewöhnungssache.