Eine Muskelverkürzung ist funktionell zu betrachten. Die Maximalkraft, die ein Muskel entfaltet, hängt unter anderem (Stichwort “intramuskuläre Koordination“) vom Überlappungsgrad der Aktin- und Myosinfilamente und damit von der Winkelstellung des betroffenen Gelenkes ab. Wenn ein Muskel seine optimale Kraftentfaltung in einem kleineren Winkel hat, als er sollte bzw. es für die beabsichtigte Sportart oder Belastungsform zweckmäßig ist, kann man von einer “Verkürzung“ sprechen. Mit Dehnen lässt sich weder die “funktionelle Länge“ eines Muskels beeinflussen noch eine funktionelle Muskelverkürzung beheben. Angezeigt ist dann vielmehr, den Muskel über eine möglichst große Bewegungsamplitude (ROM: range of motion) arbeiten zu lassen. Gleichzeitig sollte man den Antagonisten des vermeintlich “verkürzten“ Muskels kräftigen, indem man ihn ebenfalls über einen größtmöglichen ROM arbeiten lässt, damit wieder ein Gleichgewicht in der Kraft und in der Ruhespannung auf beiden Seiten (Agonist - Antagonist) hergestellt und somit eine muskuläre Dysbalanz behoben wird.
Durch Dehnen wird der Muskel nicht strukturell länger (auch nicht “schlanker“, wie vor allem in der Damenwelt vielfach erhofft wird), dennoch kann die Beweglichkeit erhöht werden. Das ist der eigentliche Sinn und Zweck eines Dehnens, das durchaus als eigene Trainingseinheit betrachtet werden kann und soll. In der Prävention und Rehabilitation sowie in beweglichkeitsdeterminierten Sportarten wie Gerätturnen und rhythmische Sportgymnastik,
aber auch Kampfsport oder Hürdenlauf ist das ein wichtiges Argument für ein regelmäßiges Dehnen, wobei ein dynamisches Dehnen mit funktionellen Bewegungen über einen größtmöglichen ROM dem statischen (“gehaltenen“) Dehnen, also dem klassischen “Stretching“, vorzuziehen ist, weil es nachgewiesenermaßen effizienter ist und das statische Stretching, wie bereits erwähnt, mit gewissen Nachteilen verbunden sein kann. Die sog. Zweckgymnastik, die jeder von uns noch aus Schulzeiten kennt, hat nichts an Aktualität verloren und durchaus ihre Berechtigung.