Charakterbildende Maßnahme am Berg - Ein Dreiländergiro unter widrigen Umständen
So, hier dann mein Bericht vom Dreiländergiro 2017 - wie üblich etwas weitschweifig. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht mit einer Rechenaufgabe. Bekanntlich nimmt die Temperatur mit zunehmender Höhe ab, und so konnte man sich eigentlich schon beim Start halbwegs ausrechnen, was einen erwartete. Hier die Aufgabe: Wenn es kurz nach dem Start auf ca. 1.500 m Höhe 8-9 Grad kalt ist und unten am Fuße des Stelvio auf ca. 900 m Höhe 11 Grad kalt ist, was erwartet dann einen oben auf dem Stelvio auf knapp 2.800 m Höhe?
Na gut, es war durchaus vorhergesagt. Am Vorabend des Rennens (da war es noch fast 30 Grad warm) bei der Bekanntgabe der Streckeninformationen wurde bereits schlechtes Wetter angekündigt: Regen, deutlich kälter als am Vortag, und auf dem Stelvio nur 4-5 Grad. Und es wurde natürlich die Strecke an sich vorgestellt. Auf der langen Tour über 168 km und 3.300 hm geht es von Nauders über den Reschenpass, das Etschtal hinunter bis Prad, von dort hinauf auf den Stelvio, über den Umbrailpass hinunter, dann unten in Santa Maria zum Ofenpass, weiter nach Zernez und zurück über die Norbertshöhe nach Nauders. Die "kleinere" Variante ist bis Santa Maria identisch, biegt dann aber rechts ab durch's Münstertal wieder in den Vinschgau und über den Reschenpass, hier sind 120 km und 2.900 hm zu bewältigen. Ich hatte mich für die lange Strecke angemeldet.
Bestes Wetter am Vortag.
Starten oder nicht starten? Etwas Hoffnung hatte ich noch, dass der Regen erst während der Veranstaltung einsetzte, doch schon in der Nacht gewitterte es, und die Straßen wurden nass. Bereits 3 Wochen zuvor war ich beim Rhön-Radmarathon jedoch wegen des schlechten Wetters nicht gestartet, und noch einen Radmarathon wollte ich mir nicht vermiesen lassen, außerdem war ich ja nun extra angereist. Ich wollte es drauf ankommen lassen, quasi mit dem Messer zwischen den Zähnen. Da ich mit so schlechtem Wetter nicht gerechnet hatte, war ich in Sachen Ausrüstung allerdings auch nicht gut vorbereitet, allenfalls für kühles Wetter mit mal einem Schauer hatte ich alles dabei. So zog ich am Morgen alles an, was ich für kühle Bedingungen mitgenommen hatte (immerhin Unterhemd, Armlinge, Knielinge, Zehenwärmer, etwas längere Handschuhe und eine Windjacke mit leichtem Regenschutz), und erst wenige Minuten vor dem Beginn rollte ich vom Hotel zur Startaufstellung.
Viel Regen bereits am Start.
Bei Starkregen und unter 10 Grad ging es also früh 6:30 Uhr in Nauders los, es hatten sich doch noch etliche Fahrer gefunden (den Vergleich zu den sonstigen Austragungen habe ich nicht). Nach kurzer Auffahrt querten wir den Reschenpass und die Grenze zu Italien, und für 30 km ging es erstmal bergab. Es dauerte 5 km, bis alles außer dem Rumpf durchnässt war, und weitere 5 km, bis der Rest auch klatschnass war. Was für eine Sauerei! Im Pulk fahren wollte ich nicht, die Räder des Vordermanns spritzten ja alles voll. Bei ca. 10 Grad und Starkregen war mir dann ziemlich schnell ziemlich kalt. Und bereits hier kamen uns etliche Radler entgegen, die das Rennen kurz nach dem Start wieder abgebrochen hatten. Unangenehm waren mir dazu die gelegentlichen Blitze. Mit mächtigem Grollen donnerte es immer wieder, und ich fragte mich, ob ich noch tapfer oder schon leichtsinnig war - mit meinem kleinen Plastikrad in den gewaltigen Bergen.
Kurz vor Prad dann eine Panne: Ich dachte, dass meine
Garmin schief sitzt und wollte die Halterung ein bisschen zurechtruckeln, bis ich merkte, dass nicht die Halterung schief stand. Es war der Lenker, der nicht richtig fest war!! Da hatte ich am Vorabend, als ich da noch rumgeschraubt hatte, wohl die Schrauben nicht richtig festgezogen! Ich sollte alle Schrauberei wohl besser Fachleuten überlassen ... Mit klammen und nassen Fingern fingerte ich mein
Multitool heraus und schraubte den Lenker fest. Spätestens jetzt waren alle weggefahren, gefühlt jedenfalls war ich in den letzten 5 % des Feldes.
In Prad dann bogen wir ab, hier beginnt die Auffahrt auf den Stelvio über 24,6 km und 1.848 hm, mit den berühmten 48 Kehren in den Radlerhimmel. Nur heute ... der Himmel warf Wasser auf uns, ohne Ende. Und vom Panorama war nichts zu sehen. Einen Vorteil hatte die Auffahrt: Allmählich wärmte mein Körper wieder auf. 24 km bergauf können aber ganz schön lang werden, und am Berg bin ich eh langsam. Stück um Stück kurbelte ich mich also hoch, die Kehren - die absteigend durchnummeriert sind - wurden doch langsam "kleiner", an einer Labestation hinter Trafoi aß und trank ich ein bisschen, naja, Radfahren am
richtigen Berg halt. Die Kraft ließ allmählich nach, die Umdrehungen wurden mühsamer, die Temperatur fiel, immerhin hörte auf dem oberen Drittel der Regen allmählich auf, und gottseidank gewitterte es auch nicht mehr. Dafür hatten wir zwischenzeitlich dichten Nebel, man konnte die Nebelschwaden richtig im Berg hängen sehen.
Der Stelvio in garstig.
An einer der letzten Kehren gab es nochmal Verpflegung, auch hier stoppte ich nur ganz kurz, um nicht auszukühlen (naja, nicht noch mehr, wir waren inzwischen bei 5 Grad angekommen). Ein großes Lob muss ich den Helfern aussprechen, die bei diesem fürchterlichen Wetter stundenlang ausgeharrt und sich um die Fahrer gekümmert haben! Dann war ich endlich oben. Eigentlich wollte ich wenigstens das Passschild fotografieren, muss es aber übersehen haben. Der sogenannte höchste Rummelplatz Europas auf 2757 m Höhe (ich glaube, das ist die italienische Höhenangabe, die Schweizer weicht etwas ab) war eiskalt, kaum belebt, und hing in dichtem Nebel. Ich stoppte also nicht weiter und begab mich direkt in die Abfahrt, zunächst 250 hm bergab zum Abzweig des Umbrails. Dieses Stück war das fürchterlichste der ganzen Fahrt. Völlig durchnässt, bei 3,8 Grad, dichtem Nebel und nasser Straße habe ich entsetzlich gefroren. Ich war unendlich dankbar für meine Scheibenbremsen, die mit geringer Handkraft und von Regen unbeeindruckt ihren Dienst klaglos verrichteten (abgesehen von einem fürchterlichen Quietschen auf den ersten Metern bergab).
Die dann folgenden paar Meter aufwärts zum Umbrail auf 2501 m taten direkt gut, weil man die klammen Glieder nochmal kurz bewegen und etwas aufwärmen konnte. Danach - jetzt in der Schweiz - ging aber das Elend weiter, gottseidank wurde es bergab allmählich wieder ein wenig wärmer. Unten in Santa Maria waren es immerhin "schon" wieder 10 Grad, ich zitterte aber am ganzen Körper. Und hier entschied ich mich für die kurze Strecke. Mir war völlig egal, welche Auswirkungen dies auf die Wertung haben würde, ich wollte nur noch zurück. Es regnete nicht mehr, und vielleicht hätte ich die 168 km sogar fahren können, aber ich war so entsetzlich durchgefroren, dass mich der Gedanke an die "Abkürzung" quasi am Leben hielt.
Von Santa Maria ging es allmählich immer weiter bergab, und ziemlich schnell kletterten die Temperaturen. Kurz hinter der Schweizer Grenze gab es wieder eine Labestation, und die
Garmin zeigte sogar 20 Grad an, es fühlte sich aber weiter sehr viel kälter an. Mir klapperten noch immer die Zähne ... Hier fand ich eine Mitstreiterin, mit der ich die nächsten Kilometer zusammen zurücklegte, wie ich hatte sie auf die kurze Strecke gewechselt.
Im Engadin sah die Welt schon wieder etwas besser aus.
Was jetzt folgte, war leider nicht zu unterschätzen, recht unrhythmisch mussten wir fast 600 hm hinauf in einem Tal, das eigentlich flach aussieht. Es wurde jetzt sogar so warm, dass ich die Jacke auszog und die Armlinge herunterstreifte. Aber nicht für lange: Je näher ich dem Reschenpass kam - auf dem Radweg auf der westlichen Seite an beiden Seen entlang mit ständigem Auf und Ab - umso kühler wurde es wieder. Von kurzzeitigen 24(!) Grad war das Thermometer wieder auf 13 gefallen, und kurz vor dem Pass setzte auch wieder Regen ein. Die letzten Kilometer runter nach Nauders waren also nochmal recht nasskalt, aber mit dem Ziel in Sicht konnte mir das nun auch nicht mehr viel anhaben.
Nach etwa 6:30 h netto und 6:50 h brutto überquerte ich die Ziellinie, der Sprecher sprach gerade davon, dass die Finisher eisenhart seien. Ich sag nur Ironman
Ich holte mir mein Finishershirt ab (für das ich leider die Startnummer hergeben musste), und rollte sofort zurück ins Hotel. Da warteten eine heiße Dusche und trockene Sachen auf mich ...
Im Nachhinein habe ich eine nette Geste des Veranstalters entdeckt: Eigentlich wären die "Abkürzer" disqualifiziert worden, aber dieses Mal wurde dafür eine eigene "Schlechtwetterklasse" aufgemacht. So tauche ich wenigstens ein bisschen in der Ergebnisliste auf (siehe [Link geht derzeit nicht, irgendeine zweifelhafte URL-Weiterleitung]). Insgesamt sind von 3.000 gemeldeten Teilnehmern nur 859 gestartet, und davon haben 539 das Ziel erreicht. Das ist schon eine sehr krasse Quote (18 % Finisher!).
In Zahlen.
Mein Fazit: Wegen des Wetters eine der eindrücklichsten Radfahrten, die ich bisher gemacht habe. Den Stelvio kannte ich bisher nur bei schönem Wetter, diesmal hat er sich von seiner äußerst garstigen Seite gezeigt. Die Fahrt hat körperlich (geht eigentlich) und mental (enorm viel) Körner gekostet. Streckenführung durchaus prima, wobei der Rückweg auf der kurzen Runde im Vinschgau über 1.000 Nebenstraßen ziemlich nervig ist. Bei schönem Wetter bestimmt eine tolle Veranstaltung. Eigentlich sollte mein Rad seine Bergtaufe bekommen, nun war es ein widerliches, nasskaltes Elend. Es war wohl eher charakterbildend.
Nachklapp: Am Tag danach wunderschönes Wetter, das ich aber nicht für eine lange Tour nutzen konnte, und am übernächsten Tag, wo ich den Stelvio nochmal von Santa Maria aus erklimmen wollte, wieder entsetzliches Wetter. Ich habe auf 2.100 m Höhe bei 7 Grad abgebrochen. Und dann musste ich wieder nach Hause fahren. Aktuell habe ich
großes Fernweh.
Ein paar fotografische Impressionen:
http://www.sportograf.com/de/shop/event/3964-3-Laender-Giro-Nauders-2017#jb-embed (es gibt auch Fotos von mir, aber man kann in der Vorschau nicht gut erkennen, ob die gut sind).
Strava-Link:
https://www.strava.com/activities/1053228066