Bevor ich hier auf meine persönlichen Spielereien eingehe, sind mir die Computerspiele erstmal eine Anekdote wert.
Viel anfangen konnte ich damit eigentlich nie, aber um die Jahrhundertwende gab es mal so eine kurze Ballerphase, im damaligen Büro, spät abends mit dem Chef.
Die Agentur befand sich in schönen Räumen eines sehr alten Gebäudes, das ansonsten ganz normal bewohnt wurde. Sie lief nicht wirklich gut, und neben der Arbeit für einen ständigen und relativ zahlungskräftigen Auftraggeber hatten wir ehrlich gesagt ziemlich viel Leerlauf. Abends hingen wir häufig beim Chef zuhause rum, vor der Glotze mit seiner Familie, bis er irgendwann morgens im Auto mal zu mir sagte: „Du, meine Frau ist in letzter Zeit immer so rollig, können wir vielleicht ab und zu mal länger im Büro bleiben?“
Gesagt, getan. Und natürlich schleppte er prompt einen gewaltverherrlichenden Ego-Shooter an, der in Deutschland flott auf dem Index gelandet war:
Kingpin - Life of Crime.
Gangmitglieder wegpusten oder mit dem Flammenwerfer grillen in der Bronx, zur Mucke von Cypress Hill.
1999 sah das noch alles recht dürftig aus, aber der Ton war dafür sehr lebensnah:
Schnell hatten wir dort unsere eigenen Spielfiguren, die natürlich auch aussahen, wie wir selbst - und räumten Abend für Abend mächtig auf. Das war jetzt so übel nicht, mit der erstklassigen Soundanlage samt mächtigem Subwoofer. Beschwert hat sich erstmal niemand; unser Büro war aber auch an der Hausecke neben einem Treppenhaus und wir hatten auf diese Art eigentlich nur zwei direkte Nachbarn, von denen wir einen nicht mal kannten. Die Familie nebenan nahm das jedenfalls gelassen.
So ging das eine ganze Weile, bis uns irgendwann morgens die Klingel aus der Arbeit riss. Eigentlich kam da sonst nie jemand vorbei, jedenfalls nicht unangekündigt. Besucher? Hier? Heute?
„Erwartest DU jemanden?“
„Nee…“
„Mach du mal auf…“
Ich öffne, und vor der Tür steht ein adrett gekleideter, überaus ordentlich wirkender junger Mann, den ich ab und zu schon in der Gegend gesehen hatte. Schaut abwechselnd mich und das Klingelschild an und fragt schließlich schüchtern: „Herr …?“
„Nein, aber den hole ich gerade mal. Einen Moment.“
(Cheffe geht zur Tür) „Ja bitte?“
(zögernd, ohne sich vorzustellen) „Hmm. Sie sind ja abends auch immer lange hier, darf ich Sie mal was fragen?“
„Ja gern, nur zu!“
(kommt einen Schritt näher, schaut auf dem Boden und sagt sehr leise) „Ich hör’ hier nachts manchmal Menschen schreien.“
(Kunstpause…)
(streckt den Kopf bis auf wenige Zentimeter Abstand vor, reißt die Augen weit auf, dann deutlich lauter)
„Hören Sie das auch?“
Ich verhindere mit Mühe den Lachanfall, drehe mich um und höre, wie Cheffe ihn in absoluter Seelenruhe und väterlichem Tonfall beschwichtigt:
„Nein nein, da ist uns jetzt nichts aufgefallen. Vielleicht ein Fernseher, oder jemand spielt am Computer, oder die Katzen kämpfen im Hof. Das kann manchmal schon ein wenig gruselig klingen, aber da sollten Sie sich keine Sorgen machen. Wir hätten das ja sicher mitbekommen, wenn was ungewöhnliches wär’.“
Der junge Mann kneift die Augen zusammen, zieht seine Oberlippe hoch und raunt ein verächtliches „Ähä…“, dann dreht er sich um und verschwindet wortlos. Kein Name, keine Adresse.
Cheffe schaut ihm einen Moment verunsichert hinterher, kurz darauf müssen wir uns aneinander festhalten, um nicht in Lachkrämpfen zu Boden zu gehen. Minutenlang geht das so.
WAS für ein schräger Vogel. Der Blick! Die Stimme!
Wir spielen von da an leiser, kürzer und seltener.
Nachklapp
Einige Wochen später.
Unser Praktikant fragt, ob er seinen Freund mal auf 'nen Kaffee ins Büro holen kann; der würde nämlich gerade die Wohnung über uns renovieren und hätte da echt viel Arbeit.
Natürlich darf er, gern.
Kurz darauf sitzt der Freund im verdreckten Blaumann völlig fertig bei uns, schüttelt geistesabwesend den Kopf und grummelt vor sich hin, sowas hätte er noch nie gesehen.
Auf Nachfrage erzählt er, dass in der Wohnung überall Müll und Essensreste lagen, die Fenster von innen mit Brettern vernagelt waren (!) und, naja, jemand fast alle Wände großflächig mit Kacke beschmiert hatte.
Unser Praktikant, mehr so der Hardcore-Typ, lacht sich dabei scheckig, während es uns kräftig im Halse stecken bleibt. Haben wir etwa…?
Unser Vermieter bestätigt später, dass es sich beim Bewohner um den stets adrett gekleideten, ordentlichen und höflichen jungen Mann handelte. Der schon seit Monaten keine Miete mehr gezahlt hatte, nicht öffnete und nicht ans Telefon ging. Irgendwann war er dann ganz verschwunden, zumindest für den Vermieter ohne eine Spur. Wir waren womöglich die letzten, die ihm dort begegnet sind.
Hörtest
Wir sind bei aller Sprachlosigkeit doch überrascht, dass wir tagelang nichts von den erheblichen Renovierungsarbeiten mitbekommen hatten und testen das mal umgekehrt mit wirklich richtig lauter Musik. Oben nicht viel zu hören. Kann also eigentlich nicht sein.
Trotzdem spielen wir von diesem Tag an sowas nie wieder. Nicht im Büro, nicht zuhause.