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Ohne Plan von Hannover Richtung Heimat - ein nicht vollständig gelungenes Experiment

kendo05

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Rhein-Neckar
Der Versuchsaufbau

Eigentlich hatte ich ja mit dem Gedanken gespielt, kurzfristig doch mal wieder ne Woche nach Malle zu fliegen. Doch die Recherche war frustrierend: Nur noch blöde Flugzeiten verfügbar, Kosten mit allem Drum und Dran wohl so bei 600-700€, Wettervorhersage für die nächste Woche jetzt nicht soo viel besser als für Deutschland,... Und irgendwie kenne ich das ja auch doch schon alles dort. Ist es mir das wert?

Die Idee am nächsten Morgen, zwischen Aufwachen und Aufstehen: Da war doch letztens dieser Artikel in der Tour über die beiden Typen, die ohne jede Planung, GPS und Karte einfach so ein paar Tage in Ostdeutschland rumgetourt sind, um zu sehen, wohin sie ihre Nase führt. Fand ich ne tolle Sache. Aber für mich, der sonst alles akribisch vorausplant, echt ne ziemliche mentale Herausforderung.

Wohin fahren? Nach Süden (Schwarzwald), Norden (Hessen) und Osten (Schwaben, Franken) kennste. Nach Nord-Westen geht's irgendwann ins dicht besiedelt Rheinland und Ruhrgebiet. Also Ost-Nord-Ost, Unterfranken, Thüringen, dann irgendwie nach Norden. Im Harz und auf dem Brocken war ich noch nicht, einen Freund in Hannover habe ich lange nicht besucht. Das sind so meine weißen Flecken auf der Deutschlandkarte, die von Heidelberg aus erreichbar sind.

Ein Blick auf Wetterbericht und Windrichtungen legt nahe, das Ganze andersherum anzugehen. Also Zug für Sonntag nach Hannover buchen, Freund kontaktieren (Biete Pizzaeinladung gegen Schlafsofa) - und auf gehts! Am Samstag lässt die Wettervorhersage für die zweite Wochenhälfte diesen Plan schon wieder fragwürdiger erscheinen, aber jetzt schauen wir mal...

Das GPS bleibt Zuhause, eine Deutschlandkarte, jeweils Nord- und Südblatt, packe ich als Backup ein - und nehme mir vor, sie nur in absoluten Notfällen auszupacken. Außerdem besorge ich mir einen Kompass, in der optimistischen Annahme, dass der mir was nützen könnte. Mein "Smart-Phone" ist als eher grenzdebil zu bezeichnen und braucht Minuten, um einfache Internetseiten aufzubauen. Also davon ist eher keine Hilfe zu erwarten, was ganz im Sinne des Versuchsaufbaus ist.
 
Etappe 1: Hannover - Schierke/Brocken, 169km, 1.950hm

Die Richtung aus Hannover raus ist soweit erstmal klar. Zur Einfahrt des Messegeländes hätte ich bereits schon nicht gewollt und mache ein erstes Mal kehrt. Einige Kilometer weiter geht ein asphaltierter Weg über die Autobahn in den Wald. Toll! 100m weiter endet der Asphalt - Retour und rechts abbiegen - ich stehe vor der Zufahrt zur Autobahnraststätte. Also doch den geschotterten Waldweg. Er führt mich nicht etwa zur nächsten Straße, sondern zu einem weiteren geschotterten Radweg entlang des Mittellandkanals. Ob das gut ist, weiß ich nicht, folge ihm dennoch nach rechts (Süd-Ost???).

Bereits hier lerne ich regionale Infotafeln für Rad- und Wanderwege zu schätzen, die einen groben Überblick über die Straßen und Wege im Umkreis der nächsten Dörfer bieten. Und hier fange ich auch schon an, an der jederzeitigen Unfehlbarkeit des eigentlich ziemlich einfach zu bedienenden Kompass zu zweifeln. Die Störungsanfälligkeit durch Stromleitungen ist mir schon bewusst, aber das passt einfach immer wieder nicht mit meinem Gefühl zusammen.

Bald ist Hildesheim ausgeschildert. Da meine neue Kette auf der nicht neuen Kassette etwas holpert, denke ich mir, dass ein Fahrradladen nicht schlecht wäre. "Ja, müsste ich Ihnen bestellen". Okay, das war wohl nichts. Einen weiteren Radladen finde ich nicht, stehe aber nun vor der Bundesstraße nach Goslar. Da muss ich hin, wenn ich zum Brocken will. Bundesstraße ist zwar nicht gerade schön, wirft für die nächsten 45km aber erstmal keine Fragen mehr zur Orientierung auf.

Bei Bad Salzgitter taucht endlich der Brocken am Horizont auf. Nach einem kurzen Rundgang durch das schöne Goslar stehe ich nun dummerweise so dicht vor dem Berg, dass ich ihn nicht mehr sehen kann. Tja, in welche Richtung muss ich jetzt genau raus aus der Stadt? Da ich nicht auf der falschen Seite vom Harz landen will, krame ich erstmals die Karte hervor. Weitere Erhellung bringt der Blick auf einen Busfahrplan. Aha, ist richtig, hier kann man nach Bad Harzburg fahren.

Der Weiterweg über Wernigrode nach Schierke ist ohne Probleme zu finden. In diesem Ort unterhalb des Brockengipfels kann man in fast jedem Haus übernachten. Das ist heute also schonmal kein Problem. Ich fahre die 10km auf der autofreien Straße hoch zum Gipfel. Oben bin ich genau an der Wolkenuntergrenze und es hat 3°. Das kann man sich wohl unter "Brocken-Wetter" vorstellen. Ich freue mich jetzt über meine Daunenjacke, aber die Abfahrt ist trotzdem kalt.

Wernigerode.JPG
Wernigerode

Brockengipfel.JPG
Brockengipfel

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Etappe 2: Schierke - Oberreißen/Thüringen, 142km, 1.270hm

Der morgentliche Blick aus dem Fenster begeistert mit unerwartet strahlend blauem Himmel!
Die Abfahrt führt zunächst in den Ort mit dem schönen Namen Elend und dann tatsächlich weiter nach Sorge.
Schlimmer geht immer.JPG

Schlimmer geht immer.

Brocken aus der Ferne.JPG

Brocken - so ein kleines bisschen Mont Ventoux

Der Weiterweg bis Nordhausen am Südende des Harzes ist problemlos zu finden und sehr schön zu fahren. Hier war ich vor 2 Jahren schonmal bei einer Tour. Trotzdem frage ich mich, wie weit ich Richtung Osten muss, da ich den Kyffhäuser noch nicht sehen kann. Da ich halt doch nicht so ganz "ohne Plan" unterwegs bin, sondern auch heute mit dem Kyffhäuser-Denkmal ein Ziel habe, schaue ich heute zum ersten Mal in die Karte. Ja, passt.
Anfahrt Kyffhäuser.JPG

Anfahrt zum Kyffhäuser

Blick vom Denkmal.JPG

Blick vom Denkmal

Nach der Abfahrt führt eine zum Feierabend leider stärker befahrene Straße nach Osten, dafür mit ordentlich Rückenwind. Dann geht es ab Artern auf kleineren Straßen Richtung Süden. Dabei ist auch mal wieder eine ca. 1km lange sehr rustikale Kopfsteinpflasterpassage. Die Infos über den Weiterweg habe ich den Infotafeln am Kyffhäuser-Denkmal entnommen.

Auch heute zweifel ich immer wieder am Kompass. Dafür habe ich mittlerweile Solarparks als eindeutigen Süd-Indikator erkannt. Auch Wind bzw. die zahlreichen Windräder helfen etwas. Mir ist allerdings unklar, ob der Wind nun aus Süd-West, West oder Nord-West kommt. Wenn man mal eine ungefähre Idee von der Himmelrichtung hat, kann man sich auch ganz gut am Gelände orientieren: "Wenn über den Bergrücken jetzt ne Straße rübergeht, komme ich nach Süden" oder "An dem Hang noch weiter entlang müsste nach Osten gehen".

Gegen 18:00 gönne ich mir den nächsten Blick auf die Karte. Die Strecke hier ist zwar schön, aber ich möchte nicht "in der Mitte von nirgendwo" ohne Quartier landen. Okay, zur Not komme ich in dieser Richtung noch bei Tageslicht bis Apolda. Da finde ich in jedem Fall eine Übernachtungsmöglichkeit. Tatsächlich finde ich schon ein paar Orte vorher was, nachdem ich einen Fehlversuch hatte.

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Etappe 3: Oberreißen - Steinach/Thüringen, 142km, 1.470hm

Einige Kilometer nach dem Start frage ich mich, ob ich mich Richtung Jena (östlich) oder besser Richtung Weimar (westlich) orientieren soll. Die größere Stadt Jena wollte ich eigentlich vermeiden, entscheide mich dann aber doch dafür - warum auch immer. Am Eingang von Jena stelle ich auf einer Infotafel fest, dass ich ab hier gut dem Saale-Radweg wieder nach Westen und zum Thüringer Wald folgen kann. Was mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist: Richtung Weimar wäre ich in eine Gegend mit deutlich mehr Bundesstraßen gekommen. War also die richtige Wahl.

Naja, dass das, was sich Radroutenplaner so an ihren Schreibtischen denken für Rennradler nicht immer nur schön ist, ist nichts Neues. So warten auch hier mal schöne Kopfsteinpflaster- und einzelne leichte Trailpassagen. Aber so alles in allem gehts, und das Thema Orientierung hat sich für viele Kilometer erledigt. Weiterhin nutze ich gerne die Übersichtskarten am Wegesrand.

Saale-Radweg.JPG

Da schluckt der Freizeitradler auf dem Saale-Radweg.

Ich bleibe mit dem wunderschönen Schwarzatal meiner heutigen Radrouten-Strategie treu. Ich könnte hier auch gut auf der wenig befahrenen Straße fahren, bereue aber nicht, auf dem Waldweg direkt am glasklaren Fluss zu bleiben. Der ist zwar nicht asphaltiert, rollt aber trotzdem sehr angenehm. Irgendwann werden dann doch auf der ziemlich autofreien Straße die Höhenmeter zum Rennsteig gemacht, den ich bei Neuhaus erreiche.

Hier nun der erste Blick auf die Karte für heute: Wie weit komme und will ich heute noch? Wo wäre es schön langzufahren? Da gäbe es schon schöne kleine Sträßchen, doch beim Durchfahren des Ortes fallen die ersten Tropfen, die sich noch vor Ortsende zu handfestem Regen auswachsen. Okay, mal noch den Berg runterrollen und dann spätestens in Sonneberg ne Unterkunft suchen. Wiederum werde ich nach einem Fehlversuch in Lauscha bereits in Steinach fündig. Ich bin heute von "Zur schönen Aussicht" nach "Zur schönen Aussicht" gefahren.

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Etappe 4: Steinach/Thüringen - Marktheidenfeld/Unterfranken, 200km, 1.794hm

Der Wetterbericht in der Tagesschau verheißt ja seit Tagen nix Gutes. Nun bin ich vor den Atlantiktiefausläufern immer schön erfolgreich nach Osten ausgewichen, aber jetzt beginnt mal so langsam der "Landeanflug" Richtung Heimat, also nach Westen. Trotzdem hat es auch heute Morgen, bis ich auf dem Rad sitze, die letzten Wolken vom blauen Himmel geschoben.

Ja, aber "Fahrt ins Blaue" ist jetzt nicht mehr. Wenn ich morgen Heidelberg erreichen möchte, muss ich schon wieder einigermaßen zielgerichtet fahren. Also kommt heute die Deutschlandkarte Blatt Süd von 1999 gleich in die Kartentasche am Lenker.

Ab Sonneberg finde ich mehrmals so halbwegs die kleinen "weißen Sträßchen" meiner Karte in der Realität. Mal wieder berührt mich dabei der unbemerkte Grenzübertritt. Idyllisch grüne Au auf glatt asphaltiertem Wirtschaftweg statt Todesstreifen zwischen Mupperg und einem bei Google unbenamsten Weiler bei Neustadt/Coburg. Also weiterhin läufts ganz gut mit dem Streckenfinden, obwohl die Karte vielleicht gerade mal 50% der Informationen zu Straßen und Ortschaften enthält, die man brauchen könnte. Ich staune auch über das Queren der A73, die in meiner Karte noch nichtmal angedeutet ist.

Einsame Sträßchen führen weiter in die "Haßberge". Die heißen wirklich so, sind aber eine ganz wunderbare Gegend zum Rennradfahren. Leider endet diese Idylle irgendwann auf der B303 nach Schweinfurth. Eine Umfahrung ist mir nur teilweise möglich, sonst würde die Strecke zu weiträumig. Ein paar Kilometer auf der Bundesstraße hätte ich mir noch sparen können, wenn mir denn vor Ort, auf der Karte und den Schildern, mehr Informationen zur Verfügung gestanden hätten.

Ab Schweinfurth nehme ich für einige Kilometer den hier gut zu fahrenden Main-Radweg und dann weiter den Wern-Radweg zum Abschneiden einer erheblichen Mainschleife. Auch die letzte Mainschleife nach Marktheidenfeld rüber wird über eine mäßig befahrene Landstraße abgeschnitten.

Als ich Marktheidenfeld vor mir habe, stehen 197,xkm auf dem Tacho. So ein Mist! Eigentlich wollte ich mit dieser Etappe wieder in "Randonneur around the Year" einsteigen, nachdem es mir die letzten Tage schon nie zu 200km+ gelangt hat. Hier gibt es sicher ein Quartier, jetzt nach 19:00 noch weiter zu fahren wäre fahrlässig. Also drehe ich noch eine unelegante Schleife durch den Ort, bis die Anzeige bei 200,02km steht.

Franken1.JPG

Lets go West.JPG

Haßberge.JPG

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Etappe 5: Marktheidenfeld - Wertheim, 15km, 165hm

Die Tropfen am Hotelfenster zeigen: Jetzt bin ich beim schlechten Wetter angekommen. Die Beine sind von den letzten Tagen lahm. Schon heute mit Regeneration zu beginnen, wäre nicht so dumm. Dummerweise liegt Marktheidenfeld nicht an einer Bahnstrecke. Aufs Rad muss ich also in jedem Fall nochmal. Also erstmal noch möglichst lang im Hotel abhängen.

Gegen 10:00 gibts kurz ein paar Sonnenstrahlen. Um 10:15 sitze ich auf dem Rad, um über die Bundesstraße unschön eine weitere Mainschleife nach Wertheim abzuschneiden. Es fängt passend dazu auch gleich wieder ordentlich an zu regnen. Das erleichtert die Entscheidung, diese Tour nicht über Miltenberg und durch den heimischen Odenwald zu Ende fahren zu "müssen".

Als ich umgezogen bin und die nassen Klamotten verstaut sind, kommt die Sonne raus. Und den Rest des Tages wird es auch nicht mehr wirklich regnen. Ich habe aber meinen Frieden mit der Tour gemacht, auch wenn "Hannover - Heidelberg" irgendwie besser geklungen hätte.
Etappe5.JPG
 
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Erkenntnisse

  1. Wenn ich vorgeplante Tracks nach GPS fahre, habe ich einen deutlich geringeren Anteil an unschönen Strecken wie Bundesstraßen.
  2. Dafür habe ich Radwanderwege mit sehr schönen Abschnitten kennengelernt, die ich sonst wahrscheinlich "links liegengelassen" hätte. Und es kann auch mal lohnen, mit dem Rennrad eine nichtasphaltierte Strecke zu fahren.
  3. Spontan vor Ort Quartiere zu finden, ist nicht wirklich ein Problem. Ohne den Preisüberblick im Internet habe ich jetzt jedoch alles in allem etwas teurer übernachtet als das sonst der Fall ist. Sonst liege ich in Deutschland oft bei 40€, jetzt waren es 2 mal 55€, 45€ und 38€.
  4. Es ist schon bemerkenswert, wie wenig du über den weiteren Streckverlauf erahnen kannst, wenn Du an einer Kreuzung stehst und dich einfach zwischen rechts, links und geradeaus entscheiden kannst. Ein Kompass ist dabei meist nur von sehr eingeschränktem Nutzen.
  5. So richtig konnte mein Vorhaben "ins Blaue fahren" nicht aufgehen, weil ich letztlich doch mehrere Ziele angesteuert habe. Würde ich es nochmal versuchen, würde ich mich einfach Zuhause aufs Rad setzen und in eine Richtung losfahren, solange, bis ich keine Lust mehr habe und dort den nächsten Bahnhof suchen. Eine Karte würde ich dann nicht mehr mitnehmen, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen. Spannende Frage, was das dann für ein Kurs von Zickzack und Kringeln werden würde. Auf jeden Fall würde ich dann Bundesstraßen konsequent meiden, weil ich ja nirgendwo ankommen müsste.

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Das ist bei mir jetzt rausgekommen. "Ohne Plan" ist anders. Aber ich habe fast durchweg Neuland kennengelernt.
 
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Schöner Bericht. Zum Bestimmen der ungefähren Himmelsrichtung reicht eigentlich eine Uhr und der Blick zur Sonne ;) Auch bei Bewölkung kann man meist sehen wo der Himmel am hellsten ist.
 
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