Mittwochmorgen beim Frühstück. Frau Leone beschwört die Geister. Sagt sie doch glatt zu mir: "Willst Du nicht Dein Rennrad verkaufen? Und Dir ein Neues zulegen?"
Ihre Frage sickert langsam durch meinen noch müden Kopf. Ich höre auf, den Löffel mit dem Müsli zu meinem Mund zu führen und gucke sie irritiert an. Rennrad verkaufen? Nein! Ein ganz klares: Nein! Ein neues Rennrad kaufen? Hm. Ja, aber... eigentlich nicht, wenn ich mein jetziges Rad dafür weggeben soll. Das geht gar nicht! Wie kommt sie bloß auf diese Idee?
Am Abend zuvor hatte ich noch recherchiert, was es mich kosten würde, wenn ich mir einen neuen Laufradsatz zulege. Der derzeitige
Mavic Aksium hat jetzt seine Siebzehntausend Kilometer runter. Okay, das ist jetzt nicht das eigentliche Problem. Er erfüllt noch seinen Zweck, ich zähle eher zu den Leichtgewichten und der Laufradsatz wird auch nicht sonderlich ruppig behandelt. Den kann ich bestimmt noch länger fahren. Ich sollte vielleicht einfach mal dieses Wochenende schauen, ob ich die Naben warten kann, damit ich Gewissheit habe, dass das Alles ein großes Missverständnis und auf ein technisches Problem zurückzuführen ist.
"Das Alles". Nüchtern betrachtet handelt es sich dabei nur um einen 1,4km langen Anstieg mit 6% Steigung. Die Auffahrt zum Dreiländereck von belgischer Seite aus. Hier bin ich am Montag nach dem Urlaub mit erholten Beinen auf dem erweiterten Weg zur Arbeit hochgefahren. Was bin ich heute flott unterwegs, dachte ich mir noch davor, während ich hin und wieder einen der belgischen Hügel im Wiegetritt wegdrückte, und beschloss: Das Dreiländereck fahre ich heute auf Zeit.
Gesagt, getan. Nach der kleinen Unterführung trete ich in die Pedale. Ich fahre im Sitzen, die Beine kreisen mit hoher Frequenz, mein Puls ist am Anschlag und mein Herz pocht in meinem Kopf. Beißen!, geht mir durch den Kopf. Nicht nachlassen!, während ich den Blick auf die letzte scharfe Kehre lenke. Zieh bis zum Ende durch!, ist die Devise auf den letzten Metern bis oben.
Oben angekommen rolle ich langsam weiter, pedaliere dabei locker und warte darauf, dass sich der Puls beruhigt. Das dauert eine gefühlte Ewigkeit. Dabei überlege, was ich denn erwarten kann. Meine Bestzeit für diesen Anstieg liegt bei Viersiebenunddreißig. Vor zwei Jahren hatte ich dabei noch den Eindruck, dass da noch etwas geht. Wenn ich heute etwas langsamer bin oder vielleicht auch fünf Minuten gebraucht habe, dann wäre das für mich im Hinblick auf die längere Pause wegen der Knieprobleme auch in Ordnung. Fünf Minuten, lege ich mich fest, wären derzeit ganz passabel.
"Das Alles". Nüchtern betrachte ich später am Rechner die Zahlen. Die Zahlen lügen nicht. Fünfzweiundfünfzig. Ich bin ernüchtert. Fünfzweiundfünfzig. Rund eine Minute langsamer als erwartet, als gefühlt, als gelitten, als gequält, als erhofft. Fünfzweiundfünfzig. Der Puls im Mittel auf 175 bei maximalen 180. Da geht nicht mehr. Die Zahlen lügen nicht.
Seitdem gehe ich die verschiedenstens Ansätze durch. Ich werde viel daran setzen, es mir gegenüber mit einem technischen Problem zu erklären. Oder irgendwie anders. Ich hätte vielleicht nicht komplett im Sitzen fahren sollen, sondern ein wenig Wiegetritt einstreuen sollen. Vielleicht hatte ich in der Nacht einen schlechten Schlaf. Vielleicht hatte ich auch Gegenwind. Die unterschwellige Befürchtung, es könnte am Alter liegen, wird immer wieder weggewischt. Midlifecrises? So ein Quatsch. Was kostet eigentlich ein neuer Laufradsatz?
Der etwas leichtere Laufradsatz
DT Swiss R23 Spline ist im Radladen meines Vertrauens zu fairen 380 Euro zu bekommen. Vielleicht würde er mir, in der Mitte des Lebens angekommen, an Steigungen das Älterwerden mit mehr Würde erlauben? Und während ich hier noch im begrenzten Rahmen aufrüsten möchte, kommt Frau Leone auf einmal mit diesem unsäglichen Vorschlag daher. Sie hat mir über die Schulter und den Preis gesehen. Ob es nicht sinnvoller sei, direkt in ein neues Rad zu investieren. Ja, aber...
Ich versuche ihr zu erklären, weshalb ich das Rad nicht weggeben kann. Emotionale Bindung und so. Weshalb es sinnvoll ist, das Rad zu behalten. Schlechtwetterrad und so. Alle - und damit meine ich Euch hier im Forum - haben ein Schlechtwetterrad. Frau Leone will es nicht einsehen und verweist auf das MTB. Meine "Ja aber..." und Überzeugungsversuche findet kein Gehör. Ich beschließe, die Verhandlungen zu vertagen.
Am Abend verlängere ich meine Heimfahrt um die Ausfahrt mit der Radsportgruppe. Eigentlich wollte ich nur hinten im Feld mitrollen und schauen, wie ich mitkomme, aber durch einen dummen Zufall lande ich gleich am Anfang in der ersten Reihe und habe die Nase im Wind. Gleich zurückfallen lassen will ich mich aber auch nicht, und so plaudere ich mit Lars, der neben mir fährt, und erzähle ihm die ganze Geschichte. Therapiegespräch auf dem
Sattel: Dreiländereck. Total am Anschlag. Miserable Leistung. Kann's nicht an den Naben liegen? Laufradrecherche. Der Vorschlag von Frau Leone beim Frühstück. Und so weiter.
Lars guckt mich von der Seite an und grinst breit. Er glaube nicht, dass das an den Lagern liegt, sagt er, grinst und schweigt dazu vielsagend. Dann grinst er weiter. Ich könne trotzdem beim nächsten Laufradsatz darüber nachdenken, etwas mehr und in etwas besseres zu investieren. Ich schweige. Er wechselt das Thema und erzählt mir, dass er demnächst ein Jobrad bekäme und einen Augenblick später ist er ganz begeistert, welchen Schnitt wir bisher auf seinen Tacho zaubern. So rollten wir dahin.
Seit vergangener Nacht bin ich mir übrigens sicher, dass das Alles ein großes Missverständnis ist. Und es ist ein technisches Problem! Aber nicht am Rad. Die Fahrt am Montagmorgen war an Tag fünf nach meinem Aderlass. Ich war nach vielen Jahren mal wieder Blutspenden. Ich hab's gut vertragen, danach noch etwas getrunken und ein paar Kekse gegessen und danach eigentlich schnell wieder die Sache vergessen gehabt. Einfach abgehakt und nicht mehr auf dem Plan gehabt. Aber jetzt macht es so langsam Sinn.
Wenn's daran wirklich liegt, dann finde ich es wohl krass, wie viel Leistungseinbußen damit anscheinend einhergehen. Leider habe ich keinen aktuellen Referenzwert unmittelbar vor der Blutspende, aber eben zwei Fahrten Ende März mit vergleichbarer Zeit, aber wesentlich ruhigerem Puls:
Es ist Zeit zu experimentieren! Ich überlege: Demnächst jeden Montag über's Dreiländereck zur Arbeit und dann mal schauen, wie sich meine Leistungsfähigkeit verbessert und nach dem nächsten Blutspendetermin absackt. Wer von Euch geht eigentlich Blutspenden und hat ähnlichen Leistungsabfall an sich selbst beobachtet?
Das eine Gespenst ist vorerst erfolgreich vertrieben, aber der beschworene Geist - das neue Rennrad - bleibt
Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende. Passt gut auf Euch auf!